Es tat ihm noch immer weh.
Gestern nach Schichtende waren sie im „Waldhorn” zusammengesessen. Am Nebentisch hatten die Sozialdemokraten wieder große Reden geschwungen. Hansjörg Jauch, einer ihrer Wortführer, war lautstark über den „säbelrasselnden Kaiser und seine Bande” hergezogen. Paul, als Mitglied der Turngemeinde ein Patriot, hatte sein Bierglas abgesetzt und sich entrüstet zu den Sozis umgewandt. Er solle sich als anständiger Deutscher mal überlegen, was er da für einen Mist rede, hatte er Jauch vorgehalten. Es sei wohl wahr, was er gesagt habe, hatte Jauch entgegnet, und die „Klugschwätzer von der Württembergischen” habe hier sowieso niemand um gute Ratschläge gebeten.
Georg war Politik ziemlich egal. Allein wie Jauch mit seinem Freund geredet hatte, wollte ihm nicht passen. „Halt deine große Klappe”, hatte er ihm an Pauls Stelle geantwortet, „oder du kriegst gleich was drauf.”
Darauf hatte ihn Hauser, der mit Jauch trank, einer der Werkzeugmacher von Schlenker & Kienzle, mit Katharina aufgezogen. Er und Hauser kannten sich noch von früher; sie waren miteinander zur Schule gegangen. „Jetzt aber, Jockeli, reiß doch du das Maul nicht so weit auf! Hier bei uns musst du keine so großen Töne spucken, nur weil dich deine Katharina abserviert hat. Geh lieber zu ihrem Lehrer und gib dem eine drauf!” Das hatte gesessen.
Georg hatte, als er unvermittelt aufsprang, den Tisch umgestoßen und Hauser einen kräftigen Fausthieb verpasst. Das ging so schnell, dass der andere gar nicht mehr reagieren konnte. Wäre Paul dann nicht dazwischengegangen, hätte sich aus dem Disput im Handumdrehen eine üble Kneipenschlägerei ergeben. Die übrigen Sozis waren bereits aufgesprungen, um Hauser beizustehen, bevor ihn Georg so richtig vermöbeln konnte.
„Wenn du noch mal dein Maul aufreißt, brech’ ich dir alle Knochen”, hatte Georg mit hochrotem Gesicht getobt, während ihn Paul und der Schäfer-Karl aus der Schankstube zerrten. Es fiel ihnen nicht leicht, denn Georg war ein kräftiger junger Mann mit breiten Schultern und Händen wie Bratpfannen.
„Ich lass mir wenigstens nicht vom Lehrer das Mädchen ausspannen.” Hauser hatte sich wieder aufgerappelt und die blutige Nase gerieben. „Dafür hast du noch was gut bei mir, Benzing!”, hatte er Georg nachgerufen.
Dieses Großmaul! Würden sie sich das nächste Mal über den Weg laufen, wäre der Hauser fällig.
Paul und Georg traten nach draußen. Die Morgenluft war frisch. Die Sedanstraße lag am nördlichen Ortsrand unweit der Schwenninger Müllkippe. Seit zwei Jahren lebte Georg mit der Familie Link unter einem Dach. In dieser Zeit war Paul Link sein bester Freund geworden. Der Uhrmacher hatte sich das windschiefe Häuschen am nördlichen Stadtrand gekauft, nachdem er einiges an Geld vom Vater geerbt hatte. Außerdem verdiente er bei Bürk ganz ordentlich.
Die Freunde schritten weit aus, während allmählich die Sonne ihre ersten Strahlen an den Himmel über Schwenningen warf. Georg verzehrte unterwegs den Käse, den er eingesteckt hatte. An dem trockenen Brot biss er sich beinahe die Zähne aus. Paul grinste. In den Straßen herrschte bereits reger Betrieb; der tägliche Ansturm auf die Fabriktore hatte begonnen. Georg fing Pauls Blick auf.
„Grins’ mich nicht so an, Paul.”
„Ich kann doch grinsen, wie ich will.”
„Du machst dich auch über mich lustig, wie?”
Paul deutete ein Kopfschütteln an. Er zuckte mit den Schultern, blieb Georg aber eine Antwort schuldig.
„Diesen Hauser hätt’ ich richtig fertig machen sollen”, grollte Georg.
„Weil er Jockeli zu dir gesagt hat?”
„Quatsch. Du weißt ganz genau, warum.”
Eine Zeit lang marschierten sie schweigend weiter. Über den Sturmbühl erreichten sie den Marktplatz. Am Rathaus wartete Karl schon auf sie.
„Morgen, Schäfer!”, rief Paul und winkte.
„Gott zum Gruße, Herr Oberuhrmacher Link!”, grinste Karl und deutete eine höfisch anmutende Verbeugung an. In Anbetracht seiner Leibesfülle wirkte das ziemlich komisch. Georg musste lachen, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. Karl arbeitete neben ihm in der Fertigung.
„Ah, der Herr Preisboxer kann schon wieder lachen. Gut so!”, höhnte Karl weiter und ließ seine Pratze auf Georgs Schulter niedersausen. „Du, der Hauser hat deine rechte Gerade gar nicht kommen sehen.”
„Der hätt’ von mir noch mehr haben können”, grummelte Georg.
„Die gibst du ihm eben das nächste Mal mit. Und jetzt beeilt euch, Kollegen”, trieb Paul die Freunde zur Eile an. Sie bogen in die Bürkstraße ein und hielten auf den roten Backsteinbau zu, über dem ein hoher Fabrikkamin aufragte.
„Eigentlich hat ja nicht der Hauser die Schläge verdient”, raunte Schäfer Paul zu, als sie sich in die Schlange von Arbeitern einreihten, die allmählich von der Fabrik verschluckt wurde.
„Na, wo die Liebe hinfällt! Aber da magst du Recht haben. Verdient hätte die Schläge wohl der Lehrer”, gab Paul mit leiser Stimme zurück, damit Georg, der hinter den beiden wartete, sie nicht hören konnte. „Aber den Rapp-Christian siehst du halt nie im Gasthaus. Da kannst du ihn eben auch nicht verhauen. Der Herr ist halt was Besseres als unsereiner.”
Karl verzog das Gesicht. „Das sieht die Katharina auch so! Armer Georg.”
KAPITEL 3 - DER ERZENGEL GABRIEL
SARAJEWO, 28. Juni 1914, 9.31 Uhr. „Ich schwöre bei der Sonne, die mich erwärmt, bei der Erde, die mich ernährt, vor Gott, beim Blut meiner Väter, bei meiner Ehre und bei meinem Leben ...” – Gavrilo murmelte die Eidesformel der Schwarzen Hand leise vor sich hin. Er hoffte, sich dadurch zu beruhigen. Sein Herz pochte laut, so laut, dass er fürchtete, die Umstehenden würden es hören. Sie mussten es einfach hören. Dem schmächtigen jungen Mann rann der Schweiß in dünnen Rinnsalen über die Stirn. Mit der Rechten tastete er nach dem Griff der schweren Browning, die in seinem Hosenbund steckte.
Seine Fingerkuppen glitten unter den Schößen seiner Jacke über das Fischgrätenmuster der Griffschalen. Er spürte das kühle Metall des Gehäuses. Gavrilo nahm die Hand langsam wieder von der Waffe und ließ sie in die Hosentasche gleiten. Er förderte ein Taschentuch zutage und wischte sich damit die Stirn. Er hustete in das Tuch und wischte sich dann damit über den Mund. Verdammte Tuberkulose. Heiß stand die Sonne am Himmel über Sarajewo.
„Ich schwöre vor Gott, bei meiner Ehre und bei meinem Leben, dass ich alle Geheimnisse dieser Organisation mit ins Grab nehmen werde ...”
Die Worte ließen die Zweifel in seinem Herzen verstummen. Auch wenn es Bogdan Zerajic vor vier Jahren nicht gelungen war, Kaiser Franz Joseph bei dessen Visite in Sarajewo zu töten, war er ihr Held. Immer wieder waren sie zu seinem Grab gepilgert. Nedelko oder er selber – sie würden es heute zu Ende bringen und Bogdan rächen. Gavrilo – Gabriel, der Erzengel, der Rache übt.
Sie würden Helden sein in ihrem Land, das die verhassten Österreicher besetzt hatten. Helden wie Bogdan, der sich in Todesverachtung nach dem missglückten Attentat eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Und auch sie waren bereit für den Tod.
Gavrilos Blick wanderte über die Franz-Joseph-Straße auf die andere Straßenseite zu Danilo. Der trug einen ausgebeulten Leinenanzug, seine Wangen waren ebenso eingefallen wie die Gavrilos. Ihre Blicke trafen sich. Danilo verzog keine Miene und wandte sich ab. Trifun, der neben ihm stand, blickte starr zu Boden. Gavrilo ahnte, wie angespannt auch die Freunde sein mussten. Sie würden es tun. Nur noch ein paar Minuten, und alles würde zu Ende sein. Mehrere schwere, dunkle Limousinen rollten über die Uferstraße heran. Einer vor ihnen würde gleich seine Browning auf den Thronfolger abfeuern. Franz Ferdinand würde heute sterben.
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