Und später weiter: Abgesehen von wenigen, waren sich "alle Grass-Kritiker einig: Grass benutzt antisemitische Klischees. Er greift antisemitische Deutungsmuster auf. Er bedient antisemitische Ressentiments. Er hat ein Problem mit Juden und mit Israel. Er verwechselt Ursache und Wirkung. Er stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Er banalisiert die Drohung des iranischen Präsidenten gegenüber Israel. Er dämonisiert Israel auf die gleiche Art, wie früher die Juden dämonisiert wurden, als Weltbrandstifter. - Aber ein Antisemit ist er nicht. Gott behüte."
Und dann schließt der Autor: "Sehr schön auf den Punkt gebracht hat das ein Kommentar des NDR. Henryk M. Broders Vorwurf, Grass sei der Prototyp des gebildeten Antisemiten, ist schlicht eine Unverschämtheit oder einfach medienwirksam polemisch. Denn nach seiner Definition wäre ich das - mehr oder minder gebildet - auch." Von Dieter Bohlen, einem weithin unterschätzten Denker der Gegenwart, stammt der Satz: "Das Problem ist: Mach einem Bekloppten klar, dass er ein Bekloppter ist. Noch aussichtsloser ist es nur, einem Antisemiten klarzumachen, dass er ein Antisemit ist."
Ich halte Günter Grass nicht nur für einen Antisemiten, sondern für einen schlimmen Antisemiten, denn anders als bei einem Glatzkopf oder Neonazi, den jeder als solchen erkennt, hat der Antisemitismus von Günter Grass etwas Raunendes. Und ich finde diesen raunenden Antisemitismus, den man nicht greifen kann, den man nicht dingfest machen kann, gefährlicher, angsteinflößender als den Neonazi auf der Straße.
Martin Walser:
Und warum sagen Sie das mir?
Mathias Döpfner:
Weil Sie gesagt haben, er ist kein Antisemit.
Martin Walser:
Verstehen Sie, wenn man jemanden 40 Jahre kennt, Tag und Nacht gewissermaßen - beim Tisch, beim Wein, beim Bier, in der Umgebung. Und dann muss man doch in 40 Jahren, wo dauernd auch politisch diskutiert wurde, merken, ob jemand ein Antisemit ist. Alles, was Sie da aufgezählt haben, für mich sind das typische Meinungsextreme aus dem gegebenen Anlass. Gestatten Sie: Dieser Anlass interessiert mich nicht. Dieses Gedicht interessiert mich nicht. Ich kann mich nicht künstlich aufregen über etwas, was mich gar nicht anspricht, gar nicht interessiert. Das gehört gar nicht zu meinem Wahrnehmungsbereich.
Mathias Döpfner:
Günter Grass hat einen Prosatext geschrieben, den er in Zeilen gebrochen hat, in dem er eine bemerkenswerte Verkehrung vorgenommen hat, indem plötzlich Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten, die von vielen anderen Ländern bedroht wird und sich angegriffen fühlen muss, als der große Angreifer gesehen wird von einem mehr oder minder unschuldigen Land wie dem Iran, das von einem Maulhelden als Präsidenten regiert wird.
Martin Walser:
Das hab ich alles schon gehört.
Mathias Döpfner:
Ja, natürlich, aber das ist so eine groteske Verkehrung. Da können Sie nicht sagen, dazu hab ich keine Meinung.
Martin Walser:
Nein, Entschuldigung. Ich verhalte mich jedem Skandal dieser Art gegenüber vollkommen unberührbar. Kollegen wie Jurek Becker, einer meiner Lieblingskollegen früher, hat, als ich in München diese Rede gegen die deutsche Teilung gehalten habe, gesagt: "Wie der Walser da geredet hat, redet man in den Nebenzimmern des Rechtsextremismus", und: "Vielleicht müssen wir alles, was der geschrieben hat, noch mal lesen und überprüfen, ob das lupenrein ist." Verstehen Sie, ein Mann, der mich kannte. Und der war aber von diesem Gerücht und von dieser Bewegung vollkommen gegen mich eingenommen - in einer für mich ganz unverständlichen Art. Ich glaube, ihr Sachwalter der öffentlichen Meinung müsst das so machen. Ich rede euch gar nicht drein. Ich sage nur, ich bin da nicht einmal ein Kunde, nicht einmal ein Abnehmer von diesen Zeilen, die Sie da vorgelesen haben. Das nenne ich einfach Zeitgeistbewegung, Zeitgeistopportunität.
Mathias Döpfner:
Natürlich müssen Sie zu nichts auf der Welt eine Meinung haben, aber so, wie ich Sie als einen feinsinnigen Beobachter der Zeitläufte kennengelernt habe, wundert es mich, dass Sie das, was Grass sich da geleistet hat, nicht unangenehm berührt.
Martin Walser:
Ich frage Sie jetzt: Ist die Grass-Angelegenheit letzten Endes eine Frage des Rechthabens?
Mathias Döpfner:
Nein. Herr Walser, es ist wirklich reine Neugier. Sie wollen dazu nichts sagen, und das ist Ihr gutes Recht. Und wir wollen Sie auch nicht zu irgendwas verführen. Ich finde es trotzdem interessant. Und am meisten interessiert mich jetzt, warum Sie nichts sagen wollen. Haben Sie das Gefühl, das Thema ist so vermint, dass man sich nur die Finger verbrennen kann? Ist es das? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Sie nach ihrer Paulskirchen-Rede über den Holocaust als Moralkeule und nach ihrem Buch "Tod eines Kritikers" dazu nicht irgendwas fühlen oder denken.
Martin Walser:
Ich frage noch einmal: Warum ist es nicht eine Frage des Rechthabens? Ist es das oder nicht?
Mathias Döpfner:
Nein.
Martin Walser:
Es ist dann was?
Mathias Döpfner:
Ich habe gesagt, was mich motiviert. Ich glaube, es ist eine Frage, in der es um alles geht. Es geht um den Umgang mit unserer Vergangenheit. Denn das Existenzrecht Israels kann nie ohne Bezug auf den Holocaust diskutiert werden. Um das "Nie wieder" eines zweiten Versuchs der "Endlösung der Judenfrage" zu vermeiden, ist der Staat Israel entstanden. Es geht aber nicht nur um unsere Vergangenheit, es geht vor allem um unsere Zukunft. Wenn Israel angegriffen wird, wird unser freiheitlicher, demokratischer, westlicher Lebensstil abgegriffen. Die Fundamentalisten des islamistischen Terrors sind auch die Feinde unserer Gesellschaftsordnung. Israel ist nur das erste, weil schwächste Opfer. Es geht also um alles. Und deswegen finde ich es einfach schwierig, nachzuvollziehen, dass jemand aus tiefer innerer Überzeugung dazu keine Meinung hat. Aber Herr Walser, ich will nicht mehr insistieren. Sie wollen es nicht. Das müssen wir respektieren.
Martin Walser:
"Sie wollen nicht." Es ist doch nicht so, dass ich nicht will, sondern ich sage wirklich: Ich kann nicht. Mit allem, was Sie gesagt haben über die Wichtigkeit dieser Frage für uns, bin ich völlig einverstanden. Und trotzdem kann ich bei diesem speziellen Skandal aus meinem ganzen, mich prägenden Erfahrungshaushalt nichts anderes sagen als: Nach allem, was ich mit dem Grass erfahren habe, habe ich ihn nie - weder bei Tag, noch bei Nacht - als Antisemit erlebt. Sie können jetzt noch sagen: "Ja, aber ein Antisemit ist so und so ..." Das geht mich nichts an. Ich weiß von meinem Gefühl, dass er kein Antisemit ist.
Schließen wir diesen Punkt ab. Ich will noch auf einen anderen Punkt kommen. Von Martin Walser ist in diesem Frühjahr ein Buch, "Über Rechtfertigung, eine Versuchung", erschienen. Dort heißt es: "Ich schlage vor, um die Kultur des Rechthabens wenigstens ein bisschen fortzubilden, dass wir entwickeln sollten eine Kultur der Selbstwiderlegung. Öffentlich. Im Parlament. In der Zeitung. Es sollte üblich sein, dass jemand, der etwas behauptet, das, was er behauptet, auch widerlegt. Alles, was ihm einfällt gegen das, was er behauptet, soll er genauso gründlich dartun, wie die Behauptung. Wenn er uns dann überzeugt von seinem Selbstwiderlegungsernst und es bleibt trotzdem noch etwas übrig von dem, was er behauptet hat, dann hat er uns für seine Behauptung eingenommen. Mir scheint, eine Selbstwiderlegungspraxis sei fast eine Chance, in einer auf Rechthaben gegründeten Gesellschaft eine Bewegung in Richtung Rechtfertigung zu ermöglichen."
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