Der Niedergang Griechenlands hat viel mit selbst verursachten Missständen zu tun. Können Sie die Empörung der Bürger in Deutschland und Frankreich nachvollziehen, die sagen: Warum müssen wir so tief dafür in die Tasche greifen -und dann wird es uns nicht einmal gedankt!
Erstens: Wir greifen nicht sehr tief in die Tasche, sondern nur ganz leicht.
Ganz leicht? Allein das erste Hilfspaket war 130 Milliarden schwer!
Was ist das schon! Andererseits gibt es Dankbarkeit natürlich nicht, wenn das Resultat für den einzelnen Griechen so schlimm aussieht wie jetzt. Ein so reiches Land wie Deutschland müsste mehr dazu beitragen, als es augenblicklich tut.
Sie gelten vielen als der Vater der Wutbewegung. Wir erleben gerade, dass einige dieser Bewegungen sich deformieren. In Stuttgart konnten die S-21-Gegner teilweise keine demokratischen Entscheidungen mehr akzeptieren, andere Bewegungen verpuffen oder verändern ihren Charakter. Macht Ihnen das keine Sorge?
Ich halte die Empörung der Stuttgarter für völlig gerechtfertigt. Der neue Bahnhof ist eine Schande.
Es ist abgestimmt worden.
Aber von wem und unter welchen Bedingungen? Hat man wirklich darüber nachgedacht, was aus dem schrecklichen Bahnhof wird, wenn die Bäume alle abgehauen werden?
Was ist demokratischer als eine Volksbefragung?
Die Bevölkerung ist falsch befragt worden. Ihr wurde vorher gesagt, dass, wenn der Bahnhof nicht kommt, Arbeitsplätze verloren gehen. Auf lange Sicht sind es die Empörten, die recht haben.
Wir haben in der Vergangenheit eine Neuauflage der Achse Paris-Berlin erlebt, man sprach von Merkozy. Ist es nicht das, was Europa jetzt bräuchte?
Diese Zusammenarbeit ist enorm wichtig: Beide Länder sind für Europa zentral, repräsentieren gemeinsam mehr als ein Drittel des europäischen Wirtschaftswachstums in Europa. Mir persönlich wäre es natürlich lieber, wenn es auf beiden Seiten zwei linke Politiker wären. Wobei das ja bei der Zusammenarbeit von François Mitterrand und Helmut Kohl sowie von Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt auch nicht der Fall war.
Das Gespann Mitterrand und Kohl war sehr erfolgreich.
Das ist richtig, aber ich hätte lieber Willy Brandt auf der anderen Seite gehabt. Deutschland und Frankreich stehen unter dem Druck der internationalen Finanzwirtschaft. Wir müssen jetzt mit Joseph Stiglitz, Amartya Sen, Jürgen Habermas und Daniel Cohn-Bendit ein anderes Europa aufbauen, als es in den letzten Jahren geschah.
Mit dem neuen Präsidenten Frankreichs, François Hollande, und seinen Plänen für die Zukunft Europas tut sich Kanzlerin Angela Merkel deutlich schwerer als mit seinem Vorgänger. Das könnte sich auch auf Europa negativ auswirken.
Für Merkel habe ich große Bewunderung: Sie hat viel für Deutschland geleistet. Aber ich wünsche mir ein rot-grünes Deutschland und ein rot-grünes Frankreich.
Sie haben scharfe Kritik an Israel geübt. Dabei unterschlagen Sie, dass die Hamas sich die Vernichtung Israels zum Ziel gesetzt hat.
Die Art und Weise, wie Israel die Palästinenser behandelt, ist inakzeptabel. Dass die Hamas immer noch die Idee von einem Land hat, aus dem Israelis verschwunden sind, ist schade. Aber Hamas und Fatah versuchen ja auch gerade, sich zu verständigen und Israel zu akzeptieren Wir brauchen einen palästinensischen Staat, deswegen darf man die Hamas nicht zu sehr kritisieren.
Man darf nicht kritisieren, dass die Hamas Israel vernichten will?
Nein, davon muss die Hamas Abstand nehmen. Aber Israel kann niemand zerstören. Ich habe für diesen wunderbaren Staat eine große Bewunderung. Er hat viel geleistet, aber die aktuelle Regierung finde ich schlimm.
Wen halten Sie heute für ein Vorbild?
Barack Obama, auch wenn er nicht so viel geleistet hat, wie ich erhoffte. Auf europäischer Seite sehe ich niemanden. Es gab Leute wie Jacques Delors, Mitterrand, Willy Brandt, für die ich große Bewunderung hatte. Aber heute ist da niemand. Deswegen brauchen wir eine junge, engagierte Generation. Der Einzige, den ich noch sehr wichtig finde, ist Dany Cohn-Bendit.
Damit dürften Sie selbst in Frankreich allein dastehen ... Der französische Regisseur Tony Gatlif hat Ihnen mit seinem halbdokumentarischen Empörungsfilm "Die Wertlosen" ein Denkmal gesetzt. Sehen Sie den Film als eine Art Vermächtnis?
Ja! Er ist ein Film des Empörens. Ich finde sehr wichtig, dass wir verstehen, wie unglücklich viele Menschen in Europa leben, und dass wir noch nicht genügend für mehr Gerechtigkeit in Europa beigetragen haben. Dafür ist dieser Film ein wunderbares Beispiel.
Das Interview führten Miriam Hollstein und Claudia Ehrenstein. Es wurde am 15. Juni 2012 veröffentlicht.
Giorgio Armani
"Ich bin Mitarbeiter von Giorgio Armani"
Fashion Designer Giorgio Armani umringt von seinen Models (Luca Bruno/AP/dapd)
Der Gründer und Besitzer eines der berühmtesten Modehäuser ist jetzt 77 Jahre alt. Er ist immer noch sehr streng mit sich selbst - dazu gehört auch, dass er tatsächlich schon über die Nachfolge nachdenkt
Paris, die Haute- Couture- Schauen im Frühjahr 2012: Keine "Privé"- Robe schwebt über den Laufsteg, ohne dass Giorgio Armani genickt hat. Überhaupt ist er über jedes Detail in seiner Multimillionen- Weltmarke informiert. Der Italiener ist einer der letzten großen Modeschöpfer, denen nicht nur der berühmte Name, sondern das ganze Unternehmen persönlich gehört. Inmitten des Backstage- Bereich im Grand Palais, zwischen Kleiderständern und Runway- Ordnung, ist ein kleiner Container aufgebaut, alles in Schwarz gehalten, auf dem Tisch stehen prächtige weiße Rosen. Giorgio Armani kommt rein und gleich zur Sache, also ins Gespräch. Er hat keine Zeit zu verlieren. Auch weil er dadurch Zeit für Auszeiten gewinnt. Das hat er verinnerlicht, seit eine schwere Hepatitis ihn Anfang 2009 schwer zeichnete. Doch längst sieht Signore Armani tatsächlich wieder aus wie auf den vielen Fotos: braun gebrannt und fit. Er ist freundlich und konzentriert, trägt, klar, ein nachtblaues Langarm- Shirt. Im Container ist es sehr warm. Mitten im Gespräch - er spricht fließend Französisch - gibt er fast unmerklich ein Zeichen; ihm fiel auf, dass ich kein Wasser hatte. Wie gesagt: jedes Detail zählt.
Was halten Sie von der Mode von heute?
Giorgio Armani:Sie ist zu oft zur reinen Kommunikation geworden und lässt dabei die Kleider in den Hintergrund treten oder kreiert Kleider, die mit der wirklichen Welt wenig zu tun haben. Ich glaube nicht, dass dies langfristig förderlich ist, weil man so Gefahr läuft, dass das Publikum sich entfernt. Ich habe stets meinen eigenen Weg verfolgt, in der Überzeugung, dass das Kleid Ausdruck einer Haltung ist. In meiner Welt ist die Ästhetik das Ergebnis von Ethik und Passion. Zu viel Mode richtet sich heute nur an sich selbst oder an die, die sie machen.
Und was ist mit der Haute Couture?
Es hat schon immer Frauen gegeben, die sich durch die Arbeit eines Couturiers hervorheben wollten, der Kleider exklusiv, nach ihren individuellen Maßen herstellt. Denn Frauen lieben es sehr, sich von anderen Frauen zu unterscheiden: "Ich habe dieses Kleid, und du hast es nicht. Ich bin also wer und du nicht." Seit der Erfindung der Couture hat sich daran wenig geändert. Die Couture dient derzeit aber auch dazu, einem Namen Glanz zu verleihen, um Produkte zu verkaufen, die nichts mit Couture zu tun haben. Parfüms, Schmuck. Und auch die Prêt-à-Porter.
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