Er hat bestimmt geglaubt, ich wäre tot.
Als das Trio mit der Gefangenen ausgestiegen war, wollte er sich aufrichten, doch ein Anfall von Übelkeit ließ ihn auf den Boden zurücksinken. Er hörte das Geräusch sich nähernder Schritte, dann riss jemand die Tür mit der kaputten Scheibe auf, und der Zugführer und zwei Bremser, der eine weiß, der andere schwarz, stürmten auf ihn zu.
»Die Gräfin...«, nuschelte Roger und deutete zur offenen Hecktür hin. »Entführt...«
Die Bremser rannten an ihm vorbei nach hinten. Der alte Zugführer ging neben ihm in die Hocke. Hinter seiner runden Nickelbrille funkelten wache Augen.
»Was ist passiert?« Erst jetzt fielen ihm die grotesk verdrehten Leichen der Pinkertons auf, über die er zuvor, ebenso wie die Bremser, hinweg gesprungen war.
Roger winkte ab. Jedes weitere Wort, das spürte er, hätte ihn kotzen lassen. Der Zugführer stand auf und eilte zu seinen Leuten, die fassungslos in die Nacht hinaus starrten, in der nun der Hufschlag mehrerer Pferde zu hören war. Die Banditen hatten die Sache also vorbereitet. Sie waren nicht hinter ihm, sondern hinter der Gräfin her gewesen. Welch dämliche Ironie.
Roger wurde von einem trockenen Hustenanfall geschüttelt, doch er riss sich zusammen und schaute sich um. Erst jetzt sah er die hingestreckte Gestalt Grovers. Seine breite Brust war von mehreren Kugeln aufgerissen, aber er lebte noch. Seine rechte Hand, die noch den Revolver umklammerte, zuckte.
Als Roger sich ächzend auf die Knie erhob, ließen seine Kräfte nach. Er stürzte der Länge nach in den Gang und fiel erneut aufs Maul. Nun hörte er Grover stöhnen. Er robbte zu ihm hin und beugte sich über ihn.
»Wie sieht’s aus, Jerry?« Er sah es selbst. Es sah nach gar nichts aus. Der Mann würde die Nacht nicht überleben.
»Schweine...« Grover hustete. Seine Augen waren glasig, sein Gesicht totenbleich, seine Nase so spitz wie die einer Maus. Das Blut hatte sein Hemd völlig durchtränkt. »Diese verfluchten Schweine...« Er schaute Roger an und kicherte. »Ich nehm an, es geschieht mir recht...«
»Sag so was nicht, Jerry«, erwiderte Roger mitfühlend. »Nicht jeder Schuss kann ein Treffer sein.«
Grover kicherte erneut. »Nein, nein. Das mein ich nicht...« Er legte die Hand mit dem Colt auf seine Brust, als könne er ihn nicht mehr halten. Seine Lippen bewegten sich lautlos, als hätte die Sprache ihn verlassen. Roger beugte sich über ihn, doch er verstand das Flüstern des Todgeweihten nicht.
»Erzähl’s mir Mann«, sagte er. »Ich bin ganz Ohr.«
»Es wär zum Lachen, wenn es nicht so traurig wär«, röchelte Grover. »Pass auf, Mann..« Er wollte sich aufrichten und spuckte im gleichen Moment Blut. »Tut mir Leid...« Er schaute Roger an. »Ich bin einmal im Leben schwach geworden...«
»Sind wir doch alle mal, Jerry«, sagte Roger.
»Nein, du weißt nicht, was ich sagen will.« Grover schaute ihn mit glasigen Augen an. »Ich hab ihm den Tipp gegeben, dass König Louis bestimmt ’ne Menge Geld ausspuckt, um seine hübsche Tänzerin zurückzukriegen...«
»Was hast du?!« Roger fuhr zurück. Er konnte es nicht glauben. Jerry Grover, seit über fünfzehn Jahren im Dienste des Gesetzes, hatte gemeinsame Sache mit einer Bande mörderischer Entführer gemacht? Es war nicht zu fassen.
»Und das ist der Dank dafür«, sagte Grover und spuckte erneut einen Blutschwall aus. »Und das ist nun der Dank dafür... Sie haben mir eins verpasst...«
»Wer hat das Ding gedreht, Jerry?«, fragte Roger. »Wer steckt dahinter?«
»Ich sag’s dir, keine Bange...« Grovers Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ich sag’s dir schon deswegen, damit die Schweine baumeln...«
Roger beugte sich wieder über ihn.
»Er wohnt in Hard Times«, keuchte Grover. »Dorthin sind diese Schweine jetzt unterwegs...«
»Den Namen, Jerry«, drängte Roger. »Den Namen!«
»Den Namen«, wiederholte Grover. Dann schloss er die Augen und machte sie nicht mehr auf.
11.
Während der Zugführer und die Bremser in die restlichen Waggons zurückeilten, um die aus dem Schlaf geschreckten Reisenden über die Lage aufzuklären, rappelte Roger sich ächzend vom Boden auf und näherte sich wankend der noch immer besinnungslosen Roxanne.
Als er sie vom Boden aufhob, wurde er von einem heftigen Schwindelgefühl erfasst, die ihm die Balance nahm, und so schoss er mit der halbnackten Last auf den Armen in das offene Abteil, rutschte auf einem roten Läufer aus und landete mit ihr in dem zerwühlten Bett.
Roxanne schlug die Augen auf, und Roger wünschte sich nach Schenectady. Er hoffte, dass er nicht so aussah, wie er sich fühlte – als hätte er eine Nacht in Gesellschaft streunender Hunde verbracht.
»Sie sehen grauenhaft aus, Homer«, sagte Roxanne. Erst dann bemerkte sie ihren mehrheitlich unbekleideten Zustand und bedeckte ihre Brüste schnell mit den Händen.
Roger wuchtete sich stöhnend von ihr und kämpfte gegen die Übelkeit an. In seinem Kopf kreisten allerlei Gedanken, und die meisten betrafen die Gräfin Landsfeld. Wenn ihre Entführung bekannt wurde, würde man jeden verhören, der zum Zeitpunkt ihres Verschwindens in ihrer Nähe gewesen war. Womöglich kam dann sein Bild in die Zeitung, und das konnte er sich nicht leisten. Er musste verschwinden.
Roxanne hob den Kopf und schaute sich um. »Wo ist...?« Erst jetzt schien ihr einzufallen, was passiert war. »Oh, mein Gott!« Sie sprang auf und raffte ihre Kleider zusammen. »Oh, mein Gott! Das darf nicht wahr sein!«
Roger schaute träge zu, als sie ihr Kleid anlegte und in die Stiefel sprang. In seinem Kopf funktionierte noch nicht wieder alles so, wie es funktionieren sollte. Er atmete tief durch und stellte sich die Frage, ob es nicht besser war, wenn er die Gelegenheit nutzte und in der Nacht untertauchte. Noch hatte er eine Gelegenheit dazu. Doch in welche Richtung sollte er gehen? Er hatte kein Pferd und wusste nicht, wie weit der nächste Ort entfernt war.
»Na, los«, sagte Roxanne. Sie knöpfte ihre Bluse zu und griff nach einer Weste, die neben der Tür an einem Haken hing. »Wir müssen hinterher!« Sie öffnete einen Schrank und entnahm ihm ein Gewehr und mehrere Päckchen Patronen.
»Zu Fuß?«
Auf dem Gang ertönte Gepolter. Der schwarze Bremser schob seinen Kopf durch den Türrahmen und sagte: »Es wird noch eine halbe Stunde dauern, bis wir weiterfahren können, Sir.«
Roger dankte ihm geistesabwesend, dann stand er auf.
»Natürlich nicht zu Fuß«, fauchte Roxanne und lud das Gewehr durch. Sie schien sich mit Waffen auszukennen. »Damen der Gesellschaft haben auf Reisen natürlich Reittiere dabei. Sie sind im Viehwaggon...« Sie deutete nach vorn. »Kommen Sie schon, bevor ihre Spur nicht mehr lesbar ist...«
»Moment mal«, sagte Roger. Er bemühte sich noch immer, sein Gleichgewicht zurückzufinden. »Wäre es nicht besser, wir fahren in die nächste Stadt? Dort wird es einen Marshal geben – vielleicht sogar einen Sheriff...«
»Papperlapapp!« Roxanne blitzte ihn an. »Das dauert viel zu lange! Und außerdem...« Sie schaute sich um, als hätte sie Angst davor, jemand könne sie hören. »Außerdem darf niemand erfahren, dass die Gräfin entführt worden ist!«
Roger machte große Augen.
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
»Weil...« Roxanne suchte nach Worten. Sie trat an die offene Tür und warf einen Blick hinaus. Als sie die toten Pinkertons erblickte, würgte sie. »Mein Gott!«
»Sie sind wenig sanft mit den Männern umgesprungen«, sagte Roger. Er baute sich neben Roxanne auf. »Und ich könnte mir vorstellen, dass sie uns umlegen, wenn sie merken, dass wir sie verfolgen.« Natürlich war ein Unmensch. Er bedauerte die Gräfin, auch wenn er sie nicht hatte ausstehen können. Aber war es etwa sein Job, Verbrecher zu jagen? War dies nicht die Aufgabe der örtlichen Behörden – auch wenn von ihnen weit und breit nichts zu sehen war? Er war schließlich nur ein kleiner Aktienhändler, und...
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