»Tut mir leid.« Ihre Stimme zitterte immer noch gefährlich. »Ich … ich bin wohl grade ziemlich hinüber.«
»Das sehe ich.«
Ihre Nase stieß in sein frisch gebügeltes Hemd und ein betörender Duft nach Arthurs Parfüm, das ihr mittlerweile sehr vertraut war, umhüllte sie. Mia wagte nicht, ihr verheultes Gesicht zu bewegen, aus Furcht, sie könne das teure Hemd schmutzig machen, und Arthur rührte sich auch nicht vom Fleck. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er endlich zur Seite trat und Mia wieder frei atmen konnte.
Arthur wies zur Terrassentür hinaus. »Mir scheint, das Unwetter ist vorbei. Ich glaube, ich fahre dich mal nach Hause, okay?«
Mia nickte, dankbar und verwirrt zugleich, dass Arthur keine weiteren Fragen stellte und sich sogar noch anbot, sie heimzubringen.
Schweigend verließen sie die Wohnung und fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage. Arthur fuhr einen silbernen Mercedes, eine große, schwere Limousine, die breit wie ein Schiff war. Mia hatte etwas Sportlicheres erwartet, so eine kleine Flunder, schick anzusehen, aber total unpraktisch, ein typisches Männerspielzeug eben. In der Limousine fühlte Mia sich wie ein kleines Mädchen, das mit Papi auf große Fahrt gehen darf, während Arthur seine Angeberkarre konzentriert und souverän durch den dichten Wochenendverkehr steuerte.
Unterwegs sahen sie Feuerwehrleute, die umgestürzte Bäume von den Straßen räumten. Das kurze, aber heftige Unwetter hatte erheblichen Schaden angerichtet. Sie sprachen den ganzen Weg lang kein Wort, und als Arthur vor ihrem Haus parkte, saßen sie noch einen Moment in verlegenem Schweigen nebeneinander.
»Danke für den schönen Abend«, sagte Mia schließlich.
»Gleichfalls. Tut mir leid, dass ich wohl die falschen Fragen gestellt habe. Ich hätte mich an unsere Spielregeln halten sollen.«
»Ach, diese blöden Regeln.« Mia berührte ihn leicht am Arm. Er wandte ihr sein Gesicht zu, aber sie sah im Dämmerlicht den Ausdruck seiner Augen nicht. Sie öffnete die Autotür.
»Gute Nacht«, sagte sie leise.
»Gute Nacht.« Seine Stimme klang warm und dunkel.
Mia eilte zum Haus hinüber und sah dem Wagen hinterher, der die enge Straße hinabfuhr und um die nächste Ecke verschwand.
In ihrem Wohnzimmer entdeckte Mia auf dem Fensterbrett eine kleine Wasserlache. Der Sturm hatte den Regen durch das undichte Fenster gedrückt. Seufzend wischte sie das Wasser fort. Im Fernsehen erfuhr sie von schweren Verwüstungen, die das Unwetter angerichtet hatte. Niemand hatte den Orkan vorhergesehen, daher waren auch keine Warnungen ausgesprochen worden. Er fegte urplötzlich über die Stadt und zog genauso schnell weiter.
Mia fühlte sich unendlich müde und hatte trotzdem kein Bedürfnis, ins Bett zu gehen. Die Traurigkeit hing noch an ihr wie Arthurs Geruch, verwirrend und lästig. In letzter Zeit war doch alles ganz gut gelaufen. Sie verstand nicht, warum sie gerade an diesem stürmischen Tag im Mai, unter dem durchdringenden Blick von Arthurs blauen Augen, erneut allen Kampfgeist verloren hatte.
Auf einmal musste sie an Frank denken, der mit seiner Fröhlichkeit und seiner Gier nach Leben ganz anders als dieser steife, kalte Arthur war. Als sie heirateten, hatte sie geglaubt, nun sei alles gut, nun könne sie sich für die nächsten vierzig Jahre entspannen. Sie hatte in ihrem wunderschönen cremefarbenen Kleid vor dem Pfarrer gestanden und gedacht, er werde sie und Frank bis in alle Ewigkeit verbinden. Stattdessen hatte diese seltsame Ehe gerade mal vier Jahre gehalten.
Mit Frank an der Seite war das Leben ein einziger Spaß. Sie gingen auf Konzerte, ins Kino, in Ausstellungen. An den Wochenenden tanzten sie bis in den frühen Morgen hinein in Clubs und auf Partys von Freunden. Oft war Mia montags noch völlig verkatert, aber das Gefühl von Lebendigkeit war so überwältigend, dass sie trotzdem gut arbeiten konnte. Frank lebte viel unkonventioneller als Mia ursprünglich erwartet hatte. Sie genoss es, gemeinsam mit ihm in ein intensives, übersprudelndes Großstadtleben einzutauchen.
Frank kannte die halbe Stadt, viele seiner Freunde und Bekannten waren Künstler. Sie machten bei Poetry Slams mit, spielten Musik in winzigen Kneipen oder stellten ihre Bilder in alten Fabrikhallen aus. Die wenigsten von ihnen konnten von ihrer Kunst leben.
Frank arbeitete als Grafiker und Webdesigner und wurde privat immer wieder für Projekte eingespannt, die einen Haufen Zeit kosteten, aber kein Geld einbrachten. Wenn Mia deswegen eine Bemerkung machte, sagte Frank nur leichthin:
»Ach, komm, wir haben doch genug. Und der Boogie braucht unbedingt eine professionelle Internetseite, damit er seine Bilder endlich mal richtig präsentieren kann.«
Seine Freunde hatten sich so schräge Namen wie Boogie, Rocco, Schmiddel oder Frodo zugelegt, und sie waren alle sehr gesellig. Man traf selten einen von ihnen allein an, in der Regel traten sie im Rudel auf und balgten sich ständig darum, wer ihr Anführer sein durfte. Die Rollenverteilung schien jede Woche zu wechseln, aber Rocco Paletti, der als Drehbuchautor arbeitete und tatsächlich davon leben konnte, erkämpfte sich den Rang des Leithundes besonders oft. Er hatte eine schlaksige Figur, bunte Tätowierungen auf den Armen und braune Haare, die er mit viel Gel straff nach hinten kämmte.
Mia mochte Rocco nicht sonderlich. Sie fand, dass er es mit seinem coolen Auftreten deutlich übertrieb. Für ihren Geschmack wirkte er eine Spur zu herablassend und gleichgültig und er bedachte Mia ein bisschen zu oft mit einem anzüglichen, süffisanten Grinsen. Eigentlich stand er auf Männer – aber seine sexuelle Orientierung schien nicht ganz eindeutig zu sein.
»Ist er etwa doch nicht schwul?«, fragte Mia, als sie einmal beobachtete, wie Rocco auf einer Party sehr leidenschaftlich eine Frau küsste.
Frank zuckte mit den Schultern. »Bei Rocco weiß man das nie so genau. Ich glaube, er ist ein Teilzeitschwuler.«
Und ausgerechnet diesen Teilzeitschwulen hatte Frank besonders gern um sich. Also arrangierte Mia sich notgedrungen mit seiner Gegenwart.
Vieles entwickelte sich allerdings genau so, wie Mia es erwartet hatte. Frank brannte darauf, ihre Beziehung schnell in sichere Bahnen zu lenken. Nach vier Monaten zogen sie zusammen, nach weiteren zehn Monaten heirateten sie. Dieser Schritt musste all den Boogies und Roccos unfassbar spießig erschienen sein. Aber keiner von ihnen machte eine abfällige Bemerkung zu ihren Hochzeitsplänen, im Gegenteil, sie freuten sich alle aufrichtig. Vielleicht war Heiraten in ihren Kreisen so exotisch, dass sie es schon wieder toll fanden.
Die Hochzeit verlief dann allerdings wider Erwarten überhaupt nicht so bunt und schrill, wie Franks Freundeskreis vermuten ließ. Mia und Frank wollten möglichst viele Freunde bei ihrer Feier dabei haben und keine Großtanten und Cousins dritten Grades, die sie gar nicht kannten. Mias Familie hatte kein Problem damit, dass nur die engsten Verwandten eine Einladung erhielten.
Bei Franks Eltern sah das jedoch anders aus. Als Mia und Frank bei ihnen zu Besuch waren und über die Einzelheiten der Hochzeit sprachen, wurde Mia klar, dass Frank und seine Eltern Welten trennten.
»Aber Tante Gisela hättest du schon einladen können«, sagte seine Mutter Erika mit leicht beleidigtem Unterton.
»Tante Gisela?« Frank sah sie entsetzt an.
»Ja, Tante Gisela. Die hat all die Jahre so viel für dich getan.«
Frank verdrehte die Augen. »Mutti, das ist ewig her. Ich habe Tante Gisela das letzte Mal bei meiner Konfirmation gesehen, wenn ich mich recht erinnere.«
»Und da hast du dreihundert Mark von ihr gekriegt. Das war damals sehr viel Geld.«
»Das musste ja auch für zwanzig Jahre reichen, danach kam nichts mehr«, knurrte Frank.
Gekränkt presste seine Mutter die Lippen aufeinander und nestelte an der Tischdecke herum.
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