„Ich kann zwei beleuchtete Fenster sehen, auf alle Fälle wohnt hier jemand, den wir fragen können.“ Julia zwängt sich durch den engen Spalt zwischen den beiden Torflügeln. Niko folgt Julia, Peter bleibt mit seinem Trolley zwischen den Torflügeln hängen, flucht leise vor sich hin, bis er ihn endlich hochkant durchziehen kann und das schwere Tor sich mit einem Ächzen schließt.
Eine vollkommene Stille umgibt sie, nicht einmal das Rauschen des Flusses ist noch zu hören, nur das Rascheln von modrigem Laub aus vielen Herbsten unter ihren nackten Füssen erscheint den Kindern unnatürlich laut, als sie sich auf die beleuchteten Fenster zu bewegen. Der schwache Lichtschein aus den beiden Fenstern lässt kurz die schwarze Oberfläche eines mit Seerosenblättern bedeckten Wasserbeckens aufblinken, darüber schwebt eine graue Gestalt. Wie eine übergroße Fledermaus starrt sie auf die Eindringlinge herab.
„Lasst uns umkehren“, raunt Julia ängstlich.
„Nichts wie raus hier“, flüstert Niko.
„Ich glaube, das geht jetzt nicht mehr, irgendetwas verfolgt uns“, meldet sich Peter mit zittriger Stimme. Die drei fassen sich an den Händen, rücken näher zusammen und drehen sich langsam um.
Aus der Dunkelheit kommt ein schwarzer Schatten auf sie zu. Sein glänzendes Auge verfolgt jede ihrer Bewegungen. Ein tief rollendes Knurren lässt die Kinder zu Salzsäulen erstarren.
„Was ist denn das für eine Bestie“, stößt Niko schlotternd hervor. Peters Zähne klappern hörbar aufeinander. Julia ist ganz ruhig, sie spürt, dass dieses Knurren, so furchterregend es auch klingt, mehr eine Warnung als eine Drohung ist.
„Hey, du Monstrum, bist du hier der Wächter“, ruft sie leise aber mit fester Stimme in Richtung des Schattens, der nun auch stehen geblieben ist.
In diesem Augenblick reißt ein heftiger Windstoß die Wolken auseinander, ein fahler Mondstrahl fällt durch die Bäume und taucht den Park in ein blau-silbernes, unwirkliches Licht.
Die riesige Fledermaus, die so bedrohlich auf sie zu zu schweben schien, steht als silberner Engel auf einem Sockel zwischen grauen Grabsteinen nahe am Wasserbassin.
Das glänzende Auge starrt sie immer noch unverhohlen feindselig an. Der mächtige Kopf, aus dem dieses eine Auge funkelt, gehört einem zotteligen Ungetüm von Hund.
„Wir gehen ganz langsam rückwärts, in Richtung Haus, nur nicht rennen“, flüstert Niko.
Julia blickt auf den großen, schwarzen Hund, der nun auch durch das Mondlicht besser erkennbar ist. Neben dem schwarzen Auge verdecken die strubbeligen Haare einen kleinen milchweißen Fleck.
„Der Arme ist ja auf einem Auge blind und ur-uralt. Ich glaube, du bist gar nicht so böse wie du ausschaust.“ Langsam streckt Julia ihre kleine Hand zur kalten Nase des Wachhundes. Der schnuppert kurz daran, humpelt an den Kindern vorbei und wendet seinen Kopf, als wolle er sie auffordern, mitzukommen.
„Kommt “, wendet sich Julia an die beiden Jungen, die sich mit einer Mischung aus Furcht und neuer Bewunderung über Julias Mut, langsam aus ihrer Erstarrung lösen. „Er führt uns zum Haus“.
Sie folgen zaghaft dem Hund auf dem nun breiter werdenden Weg.
Die Bäume am Wegrand werden weniger, bis sie auf einem mit Kies und Laub bedeckten Vorplatz, mit einem kleinen ausgetrockneten Springbrunnen in der Mitte, ankommen.
Sie stehen vor der dunklen Silhouette eines Hauses. Aus zwei großen Fenstern fällt gelbes sanftes Licht auf den Vorplatz. Die Kinder schauen zu den beleuchteten Fenstern hinauf. Nichts rührt sich, kein Laut ist zu hören. Als sie wieder auf den Vorplatz schauen, um den Eingang zu suchen, ist der schwarze Wachhund lautlos verschwunden.
Unruhig blicken sie sich um. „Wo ist denn dein Freund“, fragt Niko immer noch mit Bewunderung in der Stimme.
„Ich glaube, er sollte uns nur hierher führen“, raunt Julia und steigt vorsichtig die wenigen Stufen der breiten Treppe hinauf, auf die mit glitschigem Moos und feuchtem Laub bedeckte Terrasse. Ein kalter, modriger Hauch weht ihnen vom Haus entgegen.
„Lasst uns wieder auf die Straße zurückgehen und das Camp suchen“, krächzt Peter, sein Herz klopft bis zum Hals.
Die drei zittern vor Kälte und Angst. „Ich bekomme langsam Hunger.“ Nikos Stimme hallt über die Terrasse, lauter als er es eigentlich wollte. In diesem Augenblick sehen sie in einem der beleuchteten Fenster eine gebeugte Gestalt vorbeihumpeln. Sie wendet den Kopf, blickt zu ihnen herunter und verschwindet, als das Licht im Fenster erlischt.
„Das ist er“, murmelt Niko, mehr zu sich selbst.
„Wer ?“ Julia und Peter schauen ihn mit großen fragenden Augen an.
„Mein Opa hat mir auf der Fahrt hierher von diesem Haus erzählt, er war hier schon einmal vor vielen Jahren und hat damals jemandem geholfen.“
„Dann ist es vielleicht doch kein Geisterhaus“, lacht Peter unsicher.
Trotzdem, wohl ist es ihnen nicht, obgleich sie etwas erleichtert sind, als sie nun gemeinsam, ganz nahe beieinander, auf die Eingangstür zugehen, die im fahlen Licht erscheint, als würde sie sich nie mehr wieder öffnen, wenn man sie einmal durchschritten hat.
„Seht ihr irgendwo eine Klingel.“ Sechs Augen wandern suchend über den Türrahmen. Peter tastet mutig unter den von Spinnennetzen verwebten Blättern des Weinstockes, der den Torbogen umwuchert, nach einem Klingelknopf.
„Hier gibt es keine Klingel, wir müssen klopfen.“ Julia zeigt auf die matt glänzende Fledermaus, die in der Mitte der Tür als schwerer Türklopfer hängt.
Sie fasst mutig nach dem kalten Metall und lässt die Fledermaus zweimal auf die darunter liegende Platte fallen.
Das Tok, tok zerreißt die Stille, die Kinder lauschen gespannt. Nichts …...
Julia greift nochmals nach der Fledermaus, da hören sie aus dem Haus schlurfende Schritte sich der Tür nähern.
„Vengo, vengo“, krächzt eine Stimme aus dem Ungewissen hinter der Tür. Durch den Spalt unter der Tür sehen sie einen Lichtschein, der langsam näherkommt, bis ein Riegel, knirschend zur Seite geschoben wird. Die Tür öffnet sich mit einem gequälten Ächzen, als sei sie über Jahre hinweg nicht geöffnet worden. Eine Petroleumlampe wird durch den Spalt geschoben und leuchtet in ihre blassen Gesichter.
„Guten Abend, wir haben uns verlaufen und möchten fragen ob wir...“, sprudelt es im Chor aus den dreien heraus.
„Si, si, si, certo, aspetovi“, unterbricht sie die Krächzstimme, “e tu sei Julia“?
Überrascht, mit offenen Mündern starren die Kinder in das Licht der Lampe. Das Gesicht dahinter ist nicht zu erkennen.
„Sie kennen mich“, haucht Julia erstaunt.
„Si, certo...... sicher, kenne ich euch. Ich habe euch erwartet.“
„Wieso? “, rutscht es Niko heraus.
„Non importa.... das ist jetzt nicht wichtig“, kichert meckernd die Gestalt hinter der Lampe, die sich nun langsam senkt.
Das aschgraue Haar hängt wirr in langen Strähnen bis auf die schmalen nach vorn gebeugten Schultern, das strenge, knöcherne Gesicht ist von einer ledernen, olivfarbenen Haut überzogen. Aus dem engen Netz von Falten blicken Augen, die schon vieles gesehen haben. Sie sind flink, jung und bergen trotzdem die Weisheit von hundert Jahren. Ihr durchdringender Blick springt von einem zum anderen und die Kinder haben das Gefühl, dass diese Augen schon alles wissen.
„Das ist eine Hexe, da geh ich nicht hinein“, wispert Peter und will schon kehrtmachen.
„Non sono una strega“, murmelt die Gestalt, und etwas lauter, keinen Widerspruch duldend, „nun kommt schon herein, ihr seid ja tropfnass und Hunger habt ihr bestimmt auch. Das Camp erreicht ihr heute Nacht sowieso nicht mehr. Venga, venga, kommt schon, kommt schon“.
Mit ihren dünnen Armen drückt sie die Tür mit aller Kraft noch weiter auf, dreht sich um und schlurft, ohne auf die Kinder zu warten, in das Haus zurück.
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