„Es war im Herbst nach meinem Staatsexamen, ich war mit Freunden auf einer Bergtour am Monte Stella. Wir sind nach drei Tagen Klettern in das Tal hinuntergestiegen und den langen ermüdenden Weg am Fluss entlang durch das Tal gewandert. Es dämmerte schon, wir waren alle ziemlich erschöpft, als plötzlich, wie aus dem Nichts, eine junge Frau vor uns stand. Sie war ganz aufgeregt, fuchtelte mit ihren Armen wild herum und schrie mit schriller Stimme auf Italienisch, wir sollten schnell einen Arzt holen. Erst waren wir so erschrocken, dass wir kaum verstanden, was sie wollte, es musste etwas ganz Schlimmes passiert sein. Dann beruhigten wir sie und versuchten ihr klar zu machen, dass ich Arzt sei. Sie nahm mich sofort bei der Hand und zog mich auf einen Seitenweg, der in einen lichten Laubwald führte. Wir hatten den Weg gar nicht bemerkt, er sah auch nicht so aus, als ob er viel befahren oder betreten wurde.
„Venga, venga, presto presto, kommen Sie schnell!, rief sie mit immer noch angstvoller Stimme.
Wir begannen zu laufen, ich sage dir, jetzt wurde es mir mulmig. Von wegen Arzt, ich hatte gerade mein Examen gemacht, aber praktisch hatte ich zu dieser Zeit kaum Erfahrung. Mein Herz klopfte mehr vor Angst als vom schnellen Laufen. Was erwartet mich dort, wohin sie mich mit all ihrer Angst und Verzweiflung zerrte. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange wir gerannt sind. Irgendwann eilten wir durch ein großes, offenes schmiedeeisernes Tor, quer durch einen Park mit alten mächtigen Bäumen auf eine herrschaftliche, aber schon etwas heruntergekommene Villa zu. Ich erinnere mich noch, da war ein runder schlanker Turm, ohne Fenster, irgendwie passte er nicht zu dem Gebäude.
Wie auch immer, wir betraten durch einen Seiteneingang die große Küche, wo auf einem langen, derben Holztisch ein junger Mann, stöhnend in seinem Blut lag. Ein springender Ast hatte ihm bei Holzfällarbeiten die rechte Kniescheibe zertrümmert. Er blutete stark aus einer klaffenden Wunde. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst anfangen sollte.
„Aiutarlo, helfen sie ihm.“, flüsterte die junge Frau nur noch und schaute mich mit ihren dunklen verzweifelten Augen an. Ich habe wie in Trance gearbeitet, die Wunde zugenäht, das Bein gerichtet und geschient. Ich höre heute noch seine Schmerzensschreie. Gott sei Dank ist er irgendwann in Ohnmacht gefallen, wir hatten ja kein Betäubungsmittel.
Ich war froh, dass er nicht verblutet ist. Sein Bein habe ich mehr schlecht als recht zusammengeflickt. Das war wirklich kein Meisterwerk, ich habe noch heute ein schlechtes Gewissen. In meiner Verzweiflung habe ich ihm fest versprochen, wieder zu kommen, um ihn zu einem Spezialisten zu bringen.
Mein Gott, ich war ja noch so jung und er fast noch ein Kind.“
„Und weiter...?“Niko sah seinen Opa von der Seite an, er spürte, wie sehr ihn diese alte Geschichte berührte.
„Später einmal hat er mir geschrieben, sich bedankt, sein Bein sei zwar steif, aber mit einem Gehstock könne er laufen, nicht lange aber er könne sich fortbewegen.“
„Mensch Opa, was du schon alles erlebt hast, und...?“
„Ich bin hingefahren, ich wollte ihn holen. Nach diesem Brief wünschte ich mir, dass er wieder einigermaßen gehen könnte, aber meinst du, ich hätte diese alte Villa wiedergefunden. Im Dorf waren die Leute sehr verschlossen, als ich mich nach ihm erkundigte, auch meine Frage nach dem Weg beantworteten sie nur mit einem abweisenden Schulterzucken. Ich bin dann bis zur nächsten Stadt weitergefahren. Dort erzählten die Leute von einem Hinkefuß, der mit Zigeunern und dem Teufel im Bunde gewesen sei. Über die Zeit habe ich die Geschichte dann vergessen oder einfach verdrängt.“
Nachdenklich schaut er auf die grünen Autobahnschilder.
„Bei der nächsten Ausfahrt müssen wir raus.“
Acht
Nach zweihundert Metern haben sie ihr Ziel erreicht - und dann - sie haben ihr Ziel erreicht. Peter mag die angenehm sanfte, weibliche Computerstimme. Er hat sie für sich auf den Namen Fee getauft. So, konnte er sich vorstellen, sprechen Feen.
Sie haben die letzten Häuser der Ortschaft hinter sich gelassen.
„Wohin denn nun?“ Peters Mama hat am Straßenrand angehalten und sich auf ihren Fahrersitz gestellt. Mit der einen Hand hält sie sich am oberen Rand der Windschutzscheibe fest, mit der anderen deutet sie auf die Berge rings herum.
„Irgendwo muss es da reingehen. Ich kann doch nicht - Abzweigung mit Fluss, Brücke, dicke Eiche – in den Navi eingeben.“
Sie sieht Peter an: „Hast du auch bemerkt, das Dorf hinter uns wirkt wie ausgestorben, ich habe niemanden gesehen.“
„Vielleicht machen die alle Siesta“, meint Peter und steigt ebenfalls auf seinen Sitz.
„Wenn wir weiter an dem Fluss dort drüben entlangfahren, müssten wir doch an eine Brücke oder an einen anderen Fluss aus einem Seitental kommen, wo dann bestimmt auch der große Baum steht.“
„Du bist ja ein echter Pfadfinder, die Beschreibung des Treffpunktes ist wirklich, besch..., äähh, unklar. Ich hätte sie doch noch einmal durchlesen oder mitnehmen sollen. Also los, du bist jetzt der Navigator.“
Peter bleibt auf seinem Sitz stehen, hält den Rand der Windschutzscheibe wie ein Steuerrad fest, er fühlt sich wie Captain Sparrow, als der Fahrtwind ihm die Haare zerzaust.
„Dort vorn zweigt ein Weg ab, ich glaube er führt in das Tal hinein.“ Peter beugt sich zu seiner Mama hinunter, damit sie ihn auch versteht. „Ich kann zwar keinen großen Baum sehen, aber es ist die erste Abzweigung nach dem Dorf. “
Langsam biegen sie in den schmalen, holprigen Weg ab. Peter hat sich wieder hingesetzt, denn das Cabrio schaukelt und rumpelt durch die Löcher und über die Steine wie ein Schiff bei starkem Seegang.
„Ich glaube wir sind falsch abgebogen, mein schönes Auto, ich kann hier ja nicht einmal wenden.“
Die Äste der Sträucher rechts und links am Wegrand kratzen bei jedem Ausweichmanöver quietschend über den Lack und Peters Mama wird nun richtig wütend.
„Mist, Mist, Mist!“, faucht sie“, es musste ja dieses blöde Camp sein!“
„Ich wollte nicht hierher, ich wollte mit euch ans Meer!“ faucht Peter zurück.
„Dein Vater hat immer so komische Ideen.... So, wer will denn jetzt `was von mir, hast du mein Handy gesehen.“ Nervös fingert sie an den Taschen ihrer schicken Lederjacke herum.
„Hier !“ Peter reicht seiner Mama das Handy aus der Mittelkonsole.
„Hallo - ich bin noch unterwegs - wo - das würde ich selber gerne wissen - ja, ich komme heute noch ins Büro – bis heute Abend. Peter kannst du irgendwo den Treffpunkt erkennen“?
Der Weg wird plötzlich breiter, die Sträucher weichen zurück, eine bunt blühende Wiese liegt vor ihnen. Trotz des Fahrtwindes hören sie das Rauschen eines Flusses.
„Da vorne, ich sehe ein Brückengeländer und auf der anderen Seite steht der große Baum“, ruft Peter ganz aufgeregt.
„Na endlich, ich habe schon befürchtet, dass wir umkehren müssen.“, atmet Peters Mama auf und gibt etwas mehr Gas, sodass die Holzbohlen der schmalen Brücke unter den Rädern rattern.
Die mächtige Eiche steht mitten auf dem Weg, der sich teilt, um auf beiden Seiten an ihr vorbei zu führen.
„Das ist ja ein richtiger Kreisverkehr, schau und hier zweigt der Weg zu deinem Camp ab. Aber wo ist denn der Bus, der euch abholen soll? Es ist auch niemand da, wir sind die einzigen“, lacht Peters Mama unsicher.
„Entweder sind wir zu früh, oder der Bus hat die erste Fuhre schon abgeholt“.
Ihr fallen die Sandwiches ein, die Selma ihnen eingepackt hat. Sie hebt die Kühltasche aus dem Cabrio, zieht ihre Lederjacke aus, breitet sie unter dem Baum auf der Wiese aus, schaut auf ihre Armbanduhr und lässt sich mit einem erleichterten Seufzer neben der Kühltasche in die Wiese fallen.
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