„Wir sollten uns aber erst einmal bei dem Herrn für den Tipp bedanken.“
Mit einem freundlichen Lächeln wenden sie ihren Kopf zur Seite, aber der Stuhl neben Nikos Vater ist leer. Nur das Weinglas steht noch halb voll neben der fast abgebrannten Kerze.
Gertrud ist schwanger. Es kann jeden Tag passieren. Alle auf dem Hof sind aufgeregt, selbst Babu der, wenn er sich nicht gerade auf Mäusejagd befindet oder gemütlich auf der Fensterbank schnurrt, hat sich verdrückt. Als ob es das erste Mal wäre, dass im Kuhstall Nachwuchs erwartet wird.
„Morgen früh kommt der Veterinär – oder kommt er schon heute - nein übermorgen?“Julias Eltern stehen vor ihrem Wandkalender.
„Du hast hier irgendetwas durchgestrichen und überschrieben, weißt Du noch, was für ein Termin das war?“
„Ich glaube das war der Termin, den uns Dr. Bichler zuerst genannt und dann verschoben hat. Also kommt er heute. Ach ja, morgen müssen wir Julia zum Ferien-Camp fahren.“
„Julia, Juliaaaa, hast du schon deine Sachen für das Ferien-Camp gepackt?“
Keine Antwort. „Hast du Julia gesehen?“
„Sie kümmert sich bestimmt um Gertrud, ich werde sie fragen, ich muss sowieso hinüber in den Stall.“ Julias Vater schaut noch einmal mit zusammengezogenen Augenbrauen auf den Kalender, schüttelt den Kopf und verlässt das kleine Büro.
Julia steht neben Gertrud, sie hat ihren Kopf an ihren Hals gelegt. „Meine arme, bald bist du erlöst, das wird bestimmt das schönste Kälbchen was wir je hatten“.
Sie streicht dabei sanft über Gertruds dicken Bauch.
„Da bist du ja, ich habe es mir gedacht.“ Julias Vater legt zärtlich seinen Arm um die Schulter seiner jüngsten Tochter. „Ich schätze, sie wird übermorgen, wahrscheinlich erst in drei Tagen kalben, schade, dass du nicht dabei sein kannst.“
„Wieso, ich habe doch das letzte Mal auch mit geholfen, das Kälbchen mit Stroh trocken gerieben und, wenn es Nacht wird, kann ich aufbleiben, ich habe doch schon Ferien.“
„Eben, wir haben beinahe vergessen, dass morgen dein Ferien-Camp beginnt und ich dich zum Sammelpunkt bringen muss.“
„Da habe ich nicht mehr daran gedacht, ich wäre so gerne bei Gertrud geblieben. Du weißt, sie ist meine Lieblingskuh, sie ist die schönste.....“
„Wir haben über zwanzig Kühe und unser Herrmann ist der kräftigste Stier in unserer Region, da wirst du nicht lange auf das nächste Kälbchen warten müssen. Aber jetzt geh in dein Zimmer und pack deinen Rucksack. Sage Mama Bescheid, sie will dir helfen“, unterbricht sie ihr Vater lachend, gibt ihr einen Kuss auf die sommersprossige Nasenspitze und dreht Julia in Richtung Stalltüre.
Julia hüpft auf einem Bein über den asphaltierten Hof, nimmt zwei Stufen auf einmal, als sie übermütig die Holztreppe zu ihrem Zimmer hochspringt, sie freut sich auf das Camp obwohl sie es fast vergessen hat.
„Ich komme gleich und helfe dir beim Packen!“ ruft ihre Mutter, die sie die Treppe hochspringen hört, aus der Küche.
Julia stürmt in ihr Zimmer und hechtet außer Atem auf ihr rot-weiß-kariert bezogenes Bett. Dort hatte es sich aber schon Babu gemütlich gemacht. Mit einem beleidigten “Miau“ kriecht er noch weiter unter das Kopfkissen.
„Lege alles was du brauchst auf deinen Schreibtisch, ich helfe dir es so einzupacken, dass es nicht gar so zerknüllt wird.“Julias Mama ist in das Zimmer gekommen und knuddelt ihre Tochter.
„Mama ich möchte gerne meine Reithose und Reitstiefel mitnehmen“
„Da brauchst du noch eine Reisetasche, ich hole dir meine.“
Babu kommt beunruhigt unter dem Kopfkissen hervor und beobachtet das Treiben der beiden. Jedes Mal, wenn gepackt wurde, war danach das Haus leer, es begann dann für ihn eine Zeit der Einsamkeit. Er springt vom Bett herunter um sich unter dem Bett auf die Lauer zu legen.
Als Julia ihre Reitstiefel in die Reisetasche legen will, bemerkt sie, dass diese innen nass ist. Sie reicht sie ihrer Mama.
„Die kann ich so nicht nehmen!“
Ihre Mama zieht den Reißverschluss ganz auf, riecht hinein. „Dieser Schlawiner hat wieder in die Tasche gepinkelt!“
Zornig schaut sie sich um, eine Sandale wurfbereit in der Hand, aber Babu hat sich schon aus dem Zimmer geschlichen. Das ist sein Protest gegen das Alleinegelassenwerden.
Julias Papa steckt den Kopf ins Zimmer. „Ich habe gerade im Radio den Wetterbericht für Italien gehört, die nächsten Tage werden kühl und regnerisch. Also Anorak, Wanderschuhe, die........“ „Paapaa !“ Julia zieht die Luft geräuschvoll durch die Nase. „Ich bin kein Baby mehr!“
„Wenn ich mich recht erinnere, werden die Kinder nachmittags um drei Uhr am Meeting-Point mit dem Camp-Bus abgeholt das heißt, wir müssen ziemlich früh starten. Mama kann leider nicht mitfahren, jemand muss hier bleiben, alleine schon wegen Gertrud. Leo wird sich sicher langweilen, das dauert ihm zu lange hin und zurück. Dann packt `mal schön weiter und vergesst nicht den Anorak, die Wanderschuhe, die Zahnbürste ...“ Lachend schlägt er die Zimmertür hinter sich zu, als die Sandale, die für Babu bestimmt war, geflogen kommt.
Als Julia aufwacht, tanzen die Sonnenstrahlen, die von den Blättern des Nussbaumes vor ihrem Fenster bewegt werden, auf ihrem Kopfkissen über ihr Gesicht. Sie hat geträumt, sie liegt ganz still, bewegungslos. Die Bilder des Traumes mischen sich mit den gelb-orangen Lichtpunkten hinter ihren geschlossenen Augenlidern, als träume sie immer noch. Ich habe italienisch gesprochen, aber mit wem? Dann die dunklen Umrisse dieses großen Hauses, war es das Mondlicht, das die Fenster so bedrohlich auf sie herabblicken ließ? Langsam gleitet sie in den Traum zurück, erschrickt, als eine gebeugte Gestalt auf sie zu hinkt. „Aspetto te, ich erwartete dich“, eine weiße, zur Kralle gekrümmte Hand greift nach ihr, will ihren Arm berühren.
Hellwach springt Julia aus dem Bett, reißt das Fenster weit auf, dass die Scheiben klirren. Der kühle Morgenwind streicht ihr über das Gesicht, sie atmet tief durch, bläst die Luft aus vollen Backen in die Stille des Morgens. Langsam schwindet die düstere Erinnerung an ihren gruseligen Traum.
Noch im Schlafanzug springt sie die Treppe hinunter. Mama, Papa und Leo sitzen schon am Frühstückstisch.
„Warum habt ihr mich nicht geweckt?“
„Ach Schatz, in Deinem Camp wirst Du wohl nicht mehr lang schlafen können. Ich kann mir vorstellen, dass ihr mehrere Mädchen im Zimmer seid, da werden die Abende länger und ihr werdet früh aufstehen müssen, damit euer Tagesablauf nicht gar zu hektisch wird.“ Mama reicht ihr das Brotkörbchen.
„Frühstücke noch einmal richtig mit Vollkornbrot, die nächsten Wochen bekommst du nur Pane bianco.“
Alle am Tisch lachen. Julia überlegt, ob sie von ihrem Traum erzählen soll, aber sie beschließt, diesen Traum für sich zu behalten, da bestimmt alle noch mehr lachen würden.
Julia ist tief in den Beifahrersitz gerutscht, hat ihre nackten Füße, trotz Papas Protest, auf die Ablage vor sich gelegt und schaut verträumt aus dem Fenster. Sie haben gerade den Brenner überquert, die leer stehenden Zoll- und Grenzgebäude passiert und Papa erzählt von früher, als sie noch gar nicht auf der Welt war, dass dies hier eine richtige Grenze war mit Schlagbaum, Polizeibeamten, denen man seinen Reisepass zeigen musste und langen Wartezeiten im Stau. Auf dem Heimweg von Italien hatten sie immer Bammel, wenn der Zollbeamte seinen Kopf durch das heruntergeleierte Fenster steckte, als ob er die zwei, drei Flaschen Wein, die sie zu viel mitgenommen hatten, riechen konnte und mit strenger Stimme fragte, ob sie etwas zu verzollen hätten.
„Das ist schon eine feine Sache, dass wir in Europa fast keine Grenzen mehr haben, das bringt die Menschen näher zusammen. Für deine Generation wird das ganz selbstverständlich sein“, lächelt Julias Papa frohgelaunt und beginnt ein Lied von Eros Ramazotti zu summen.
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