Sie aalte sich noch ein wenig und wusch sich träge, aber langsam wurde das Wasser doch etwas kühl, und mit flüchtigem Bedauern – nichts Gutes dauert ewig – stand sie auf und hüllte sich ins Badetuch. Noch schön eincremen…
Neunzig Kilo – das waren noch Zeiten gewesen, aber das Herumrödeln, Schule, Nachhilfestunden, Nebenjobs, Trading, nicht zu vergessen die winzigen Beträge, die sich selbst zum Leben zugestanden hatte, all das hatte rasch an ihr gezehrt, und heute wog sie vierundfünfzig Kilo. Eindeutig zu wenig, aber sie achtete strikt darauf, dass es nicht noch weniger wurde, um keinesfalls in die Nähe einer Anorexie zu geraten. Und so dürr gefiel sie sich. Zierliche Taille, schmale Hüften, praktisch kein Busen, lange dünne Beine (aber mit Waden!), das sah so herrlich unweiblich aus. Weiblichkeit – das stand für Hilflosigkeit, für Männeranlocken (und ausgebeutet werden), für Ich nehme meinen Job nicht ernst, das ist bloß bis ich heirate, für Ich möchte so gerne ein Kind . Alles ganz schrecklich!
Nein, sie wollte keine Kinder. Konnte sie auch gar nicht, sie hatte ja keine Ahnung, was für schreckliche Gene sie möglicherweise vererbte! Außerdem hatte sie keine Lust, immerzu zu Hause herumzusitzen und alles aus Mutterliebe zu opfern, was ihr wichtig war. Das erwartete doch jedermann von einer Mutter – Selbstaufopferung, da man das vom Papi ja nicht erwarten konnte. Warum ließ man Frauen überhaupt lesen und schreiben lernen, wenn sie dann doch bloß zu Hause rumlungern sollten? Krippenplätze gab es in Leisenberg vielleicht für fünfzig Kinder, da musste man das Kind mindestens zwei Jahre vor der Empfängnis anmelden und außerdem ein Sozialfall sein. Nicht einmal Kindergartenplätze gab es hinreichend. Und mit Papi – dann müsste sie neben der ganzen Arbeit im Haushalt noch einen durchfüttern, und nach ein paar Jahren fand der eine Bessere respektive Jüngere und zog mit der Hälfte ihrer Ersparnisse davon. Nein, danke.
Valli war ja nach eigenem Bekunden glücklich verheiratet, überlegte Luise beim Eincremen der Waden, aber sogar sie hatte sich dauernd zu beklagen. Johannes war geistesabwesend, Johannes hatte seit Tagen nicht mehr mit den Kindern gesprochen, Alex war am Durchfallen, obwohl das Schuljahr noch ganz frisch war, Vicky pubertierte heftigst und lief herum wie eine minderjährige Stricherin, Maggie hatte außer Pferden nichts im Kopf und nervte in jeder wachen Minute, warum sie kein Pony haben konnte. Sie selbst musste sich um alle Familiensachen alleine kümmern und außerdem versuchen, den Haushalt von ihrem spärlichen Einkommen als Illustratorin zu finanzieren. Johannes zahlte dafür das Haus ab. Mehr war nach seinem Bekunden nicht da. Übrigens typisch, fand Luise – auf ihr Geld hatten beide Zugriff, auf seins nur er.
Ein solches Leben wollte sie nicht. Und was Familie für Vorzüge haben sollte, verstand sie sowieso nicht. Liebe? Keine Ahnung, wie das war, wenn man jemanden liebte – woher auch?
War man dann nervös, wenn der andere da war – oder eher wenn er nicht da war? Machte man sich Sorgen? Um den anderen? Um sich selbst, ob man klug, schön, jung genug war? War man plötzlich willig, sich aufzuopfern? Stellte man Forderungen? War man stolz auf den anderen oder würde man ihn am liebsten verstecken, damit ihn keiner klaute? War man eifersüchtig?
So ganz grundsätzlich konnte sie das niemanden fragen. Lisa, Irene, Valli, alle würden sie rundäugig anstarren: Ja, du musst doch schon mal verliebt gewesen sein!
War sie aber nicht, sorry.
Ein, zwei One-night-stands, um Bescheid zu wissen (und genau genommen war Sex eigentlich ziemlich albern) – und ein rasch gescheiterter Versuch, eine Beziehung zu führen, damals, mit vierundzwanzig, als sie dachte, sie müsste es doch auch mal probieren. Der arme Nils, er hatte sich solche Mühe gegeben, aber egal, was er machte, sie wurde bockig, fühlte sich bevormundet, nicht ernst genommen und überhaupt eingeengt. Sie hatte zunehmend Hobbys entwickelt, die man nur alleine betreiben konnte, lesen, Filme gucken, fotografieren – und Nils war ihr lästig gewesen. Als sie ihn schließlich seiner verständnisvollen Kommilitonin Susanna in die Arme getrieben hatte, war sie regelrecht erleichtert gewesen. Heute kam sie mit den beiden und ihren vielen, vielen Kindern ganz gut zurecht. Vielleicht genau deshalb, weil es nur noch eine lockere Bekanntschaft war. Zu mehr war sie eben offensichtlich nicht in der Lage, und am besten fand sie sich damit ab.
Abfinden war ein bisschen pathetisch, sie hatte mit der Tatsache ja gar keine Probleme. Der Job lief prima, die Finanzen waren in Ordnung, sie war gesund und sah ganz akzeptabel aus, groß, schlank, gepflegt, geschmackvoll gekleidet. Was wollte sie eigentlich mehr? Nette Freundinnen hatte sie auch.
Und allen dreien ging es wirklich schlechter als ihr, deshalb musste sie sich ein bisschen um sie kümmern. Am ärmsten dran war ihrer Ansicht wirklich Valli, an der alle zehrten und die auch niemanden hängen ließ. Pflichtbewusstsein konnte einen bis zur Selbstaufgabe treiben!
Irene hatte sich ihr komisches Leben selbst ausgesucht, und irgendwie war das jetzt wohl schon Tradition, dass die Töchter sehr früh wieder eine Tochter kriegten und die Großmutter die Aufzucht übernahm. Joy allerdings war voll im Beruf engagiert, und sollte Elisa wirklich ein Kind kriegen, würde eben Irene auf Teilzeit gehen (das kam ihr sicher sowieso entgegen), damit Elisa ein glänzendes Abitur hinlegen und dann studieren konnte. Und in siebzehn, achtzehn Jahren würde Irene mit noch nicht mal siebzig Ururoma werden… Männer waren in dieser Familie nur Randerscheinungen, und das war vielleicht gar nicht so übel. Irene hatte immer einen Freund, Joy meistens auch und Elisa hatte ja jetzt diesen zehn Jahre älteren Herrn, der Irene so verstörte…
Und Lisa? Die würde selber sicher sagen, dass sie die Allerärmste war – aber Luise fand, ihr ging es jetzt wenigstens eigentlich gut. Früher – ja, früher hatte sie ein furchtbares Leben, weil praktisch unmittelbar nach ihrem Abitur erst ihre Mutter und kurz danach auch ihr Vater schwer krank geworden waren. Lisa hatte über zehn Jahre damit verbracht, die beiden zu pflegen, die immerzu wimmerten Steck uns nicht ins Pflegeheim, tu uns das nicht an . Alle anderen hatten natürlich gesagt Mensch, nimm dir doch wenigstens eine Pflegerin dazu, ihr habt das Geld doch . Prompt das Gewimmer Lass nicht zu, dass uns fremde Personen betreuen, das ist so seelenlos . Die Freundinnen: Besorg dir doch wenigstens jemanden für den Haushalt, du reibst dich doch total auf. Die kranken Eltern dagegen Lass keine fremden Leute ins Haus, wir wollen nicht, dass uns andere so sehen .
Das einzige, was blieb, war, dass Valli und Luise ab und zu vorbeischauten und Lisa halfen, das große Haus sauber zu halten. Aber sie durften nicht bei der Wäsche helfen, sie durften nichts an der Einrichtung verändern, damit die Arbeit leichter wurde ( unsere schöne Küche, die wir uns damals jung verheiratet vom Munde abgespart haben – und du willst sie zerstören, nur weil du nicht abspülen magst? Ach Kind, welche Enttäuschung…! ), und sie durften sich vor den Kranken nicht sehen lassen: Wir wollen nicht, dass die beiden sehen, wie sehr wir uns verändert haben . Lisas Mutter laborierte mit ihrem Krebs rund zehn Jahre dahin, und kurz nach ihrem Tod starb auch der Vater an seinem dritten Schlaganfall. Eine Erlösung, fanden die Freundinnen, aber es dauerte fast ein halbes Jahr, bis Lisa wenigstens die Krankenhausbetten und das übrige Equipment aus dem Haus geschafft hatte. Und dann hätte sie eigentlich ihr Leben genießen können, die Eltern hatten ihr das Haus und ein hübsches Vermögen hinterlassen, und mit dreißig hätte sie durchaus noch einen interessanten Beruf lernen können – aber nein, Lisa wollte heiraten. Möglichst sofort. Und möglichst sofort einen Haufen Kinder haben. Dabei hatte man gar nicht das Gefühl, dass sie mit Kindern so besonders gut konnte, mit Vallis Kindern jedenfalls nicht.
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