War das nicht eindeutig? In einem Traum! In einem beängstigend realistischen Traum. Ihr Herz hämmerte so schmerzhaft gegen den Brustkorb, als hätte sie einen Sprint hinter sich. Mit bebenden Atemzügen schnappte sie nach Luft, während sie ihre Tränen wegblinzelte. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das gleißende Licht und sie konnte ihre Umgebung genauer betrachten: Sie lag auf einer Wiese, die sich scheinbar unendlich weit in alle Richtungen erstreckte. Sträucher und Büsche unterbrachen hier und dort die Sicht. In der Ferne ragten auf einem Hügel Bäume in die Höhe.
Wo war sie? Die Sonne brannte und der Boden war trocken und hart; dennoch war alles grün: Gräser, Blätter, es duftete nach Frühling, nach Lavendel und Thymian, wie im Garten ihrer Eltern – und nach Wasser. Aber ihre Ohren nahmen fremde Geräusche wahr, die nicht zu dieser idyllischen Traumlandschaft passen wollten.
Temi stützte sich mit den Händen ab und richtete sich auf. Was war das? Vermutlich irgendein Geräusch draußen, das ihr Unterbewusstsein im Traum verarbeitete. Einmal hatte in einem Traum ein erträumter Kühlschrank gepiepst. Im Nachhinein hatte sich das als Weckerklingeln erwiesen. Aber noch nie war ihr im Traum so bewusst gewesen, dass sie träumte.
Nun, wenigstens war das kein Alptraum mehr, im Gegensatz zu diesem Wesen in ihrer Wohnung. Schnell blickte sich Temi um, doch der Schlangenmensch war nirgends zu sehen. Und auch keine schwarzen Flammen. Sie seufzte erleichtert auf. Auch wenn der Traum offenbar noch nicht zu Ende war, folgte nun wohl ein ruhigerer Teil. Entspannt lehnte sie sich nach hinten und ließ sich von der heißen Frühlingssonne wärmen, doch sie fuhr sofort wieder hoch. Die Erde unter ihr vibrierte. Was war nun los? Ein Erdbeben?
„Vielleicht stampft auch gerade ein Riese auf mich zu“, murmelte sie sarkastisch. Wer wusste schon, welchen Streich ihr ihre Phantasie jetzt spielte. Nein, für einen Riesen war das Stampfen definitiv zu rhythmisch – außerdem würde sie den ja wohl schon von Weitem kommen sehen. Es klang eher wie eine Herde von Pferden, die mit hoher Geschwindigkeit über die Wiese galoppierten. Das zumindest würde einem Traum nahe kommen, der so schön war, wie die Landschaft es versprach.
In der Ferne glaubte Temi einen Schatten zu sehen, der einem Pferdeleib glich. Doch die Sonne blendete sie und schnell tanzten dutzende Punkte in allen möglichen Farben und Formen vor ihren Augen. Das änderte sich auch nicht, als sie die Lider zusammenkniff. Ihre Augen tränten schon wieder.
Nein, so konnte sie nicht feststellen, ob es wirklich Pferde waren oder doch nur ein Rudel von Rehen, die gerade in der Nähe ästen. Das Zittern hatte aufgehört. Dabei verdiente sie in einem so schönen Traum auch eine ganze Herde von Pferden. Wenn sie ganz fest daran dachte, passierte es vielleicht wirklich.
Doch kein Gedanke holte das Hufgetrappel zurück.
Davon träumte sie schon lange. Auf einem Pferd durch eine idyllische Landschaft zu reiten. Sie wünschte sich sehnlichst ein Pferd – einen kräftigen kleinen Isländer vielleicht, oder ein anderes, sie war da nicht wählerisch. Aber das konnte sie sich als „arme“ Studentin nicht leisten.
Nun, sie war nicht wirklich arm, aber eben auch nicht reich. Sie hatte ihr günstiges Zimmer im Studentenwohnheim aufgegeben und zahlte für ein paar Freiheiten gerne mehr: für mehr Platz für Bücher, ihre ägyptischen Götterstatuen und vor allem für Nemesis. Für sie gab sie doch gerne Geld aus. Um keinen Preis würde sie das rotfellige Kätzchen mit den strahlend blauen Augen wieder hergeben. Auch wenn es ihr schon mehr als einmal den Schlaf geraubt hatte, weil es, quicklebendig wie es war, Nacht und Tag verwechselte oder sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass es mittags mehr Aufmerksamkeit bekam als um 3 Uhr nachts. Doch ein Blick reichte und Temi konnte Nemi nicht mehr böse sein.
Temi hörte ein bestätigendes Miauen. Gleich würde sie aufwachen, weil ihre gefräßige Katze an ihren Haaren oder gar ihren Fingern rumkaute.
Als etwas sie am Ellenbogen berührte, drehte sie den Kopf – und starrte die kleine schwarze Katze, die an ihrem Armgelenk knabberte, mit weit aufgerissenen Augen an. Diesen Traum musste sie sich merken. Oft setzte sie ihre Träume in Geschichten um – und dieser Traum wurde immer besser!
Die Katze fauchte missmutig, weil Temi ihr nicht ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Und obwohl sie ein bisschen kleiner war als Nemesis, klang das Fauchen im Gegensatz zu Nemis Piepsen richtig beängstigend. Temi hatte sich schon mehr als einmal gefragt, ob sie mit Nemesis nicht eine verkappte Maus gekauft hatte. Ihr Grollen beim Auftauchen des Schlangenmenschen hatte Temi sehr überrascht.
Temi ging in die Hocke, die Katze strich um ihre Beine herum und schnurrte laut. „Wie eine Motorsäge!“, dachte Temi und schmunzelte. Sie strich der kleinen Katze über den Kopf und zum Dank biss die ihr in den Finger. Zwar spielerisch, aber es bildeten sich zwei, drei winzige Blutströpfchen auf ihrer Haut. Es tat weh, und trotzdem wachte sie nicht auf. War es etwa doch kein Traum, sondern Wirklichkeit? Dafür, dass sie tief und fest schlief, konnte sie jedenfalls erstaunlich klar denken. Unschlüssig sah Temi die Katze an, auf der Suche nach einer Antwort, doch das Tierchen maunzte nur.
Irgendwo zwitscherten Vögel, sonst war es so still, dass sie das leise Geräusch des Windes im Gras hören konnte. Und es zischte. Besorgt sah sich Temi um. Es klang wie eine Schlange. Eine Schlange!!
Erschrocken sprang sie auf, als sich direkt neben ihr etwas im Gras wand. Sie fürchtete sich zwar nicht vor Schlangen, kannte sich aber auch nicht damit aus. Sie hatte also keine Ahnung, ob das Reptil giftig war oder nicht. Am eigenen Leib wollte sie das jedenfalls nicht erfahren. Da hielt sie lieber Abstand.
Die Katze jedoch kannte keine Angst. Sie fauchte und stellte alle Haare auf wie ein Igel seine Stacheln. Mit ihrem Buckel wirkte sie doppelt so groß wie zuvor. Temi war eigentlich sicher, dass Schlangen Katzen nicht fürchteten und dass das Reptil ihr gleich eine Lektion erteilen würde. Doch der Schlange war dieses wildgewordene Pelzknäuel offenbar nicht geheuer. Als das Kätzchen mit einem sehenswerten Sprung auf die Schlange zusprang, suchte diese so hastig das Weite, wie sie es ohne Beine eben konnte. Die kleine Katze jagte der Jägerin mit wilden Sprüngen hinterher, bis diese in einem Erdloch verschwand.
Temi erinnerte sich wieder an den Schlangenmenschen in ihrer Wohnung – und an seine Angst vor Nemesis. Vielleicht hatte er Nemesis ausgesperrt, um in Ruhe ihre Wohnung zu durchsuchen! Ihr Herz fing an zu rasen, als stünde das Wesen ihr gegenüber. Gedanken schossen wild durch ihren Kopf: Wenn es kein Traum war: Wo war sie? Was zum Teufel war dieses Mischwesen?
Sie hatte einen Verdacht – aber den „Verdächtigen“ gab es eigentlich nicht. In der griechischen Mythologie gab es eine Gestalt, die aussah wie der Schlangenmensch in ihrer Wohnung: Kekrops, ein mythischer König Athens, hatte der Sage nach einen Schlangenleib und menschlichen Oberkörper. Sie erinnerte sich noch genau an die lustige Beschreibung „Mensch mit Schlangenfuß“ in einem ihrer Mythologiebücher. Manchmal hatte sie sich eine Schlange mit Füßen vorgestellt, obwohl natürlich klar war, was der Autor damit meinte: Der König hatte keine Beine, sondern einen Schlangenleib. Doch das waren Mythen. Eigentlich.
Allerdings war was momentan ihr einziger Anhaltspunkt. War sie im antiken Griechenland? In welcher Zeit genau? Hatten diese sagenhaften Wesen wirklich gelebt? Für die Menschen heute waren diese Mischwesen nichts weiter als Erfindungen kreativer Köpfe. Schon in der Antike glaubten die meisten nicht, dass es diese bizarren Kreaturen tatsächlich gab.
Oder gab es sie doch? Temi lief es, obwohl es warm war, eiskalt den Rücken herunter. Nein, es waren sicher nur die Traumgespinste ihres zugegeben äußerst einfallsreichen Gehirns. Sie hatte einfach zu viel Phantasie.
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