»War es nicht gestern noch der Weiße Adler?«, fragte meine Großmutter spottend.
Sie nahm mir den Säbel weg und schob ihn wieder in die Scheide. »Du haust mir noch was runter.«
Sie trug ein blaues, einfaches Kleid mit einem schmalen Gürtel, am Kragen war das Kleid weiß abgesetzt, und ihr Hals schob sich kräftig aus dem Blau des Kleides. Ihre Augen waren von einem warmen Grau, und die Hände hatten eine angenehme Form, das richtige Maß, wie ich empfand. Plötzlich fragte sie: »Wer wird der erste Tote in unserer Familie sein, Hannes?« '
Ich wusste keine Antwort. Krieg und Schrecken waren für mich noch keine zusammenhängende Erscheinung. Aber dass Soldaten im Felde starben, wusste ich. Von allen Männern, die ich kannte, kam nur mein Vater als Soldat in Betracht. Niemand sonst. Dass mein Vater Soldat werden und fallen könnte, war mir nicht vorstellbar.
Sie starb ein Jahr nach Kriegsbeginn.
Es war Mitte Dezember, nasskalt und neblig. Aus einem tief hängenden Himmel rieselte Schneeregen. Meine Familie stand auf dem Platz vor der Leichenhalle. Das schwarze Tuch der Mäntel glänzte vor Nässe, und in den Zylinderkrempen sammelte·sich Schmelzwasser. Die Frauen hielten ihre Gesichter hinter schwarzen Schleiern versteckt, unter denen man ihre Trauer ahnte; ich hätte allen Dreien gern in die Augen gesehen. Trauer war mir kein Begriff, ich empfand keine Trauer, ich empfand nur Grauen und fürchtete mich vor dem Augenblick, wo ich die Tote sehen würde.
»Wir haben lange darüber nachgedacht, ob du schon verständig genug warst, von deiner Großmutter Abschied zu nehmen. Dann entschieden wir, es wäre besser, du würdest sie noch einmal sehen. Leid macht sittlich.«
Leid macht den sittlich, der schon einen sittlichen Begriff besitzt. Es war ein scheußlicher Tag. Kälte kroch mir die Beine hoch, und ich, erwog, eine Ohnmacht vorzutäuschen, um auf mich aufmerksam zu machen: Seht, auch ich leide.
Der alte Stadel legte mir die Hand auf die Schulter. Er weinte, ohne das Gesicht zu verziehen, ich fühlte seinen Schmerz und bewunderte seine Selbstbeherrschung. Nur die harten, wimpernlosen Lider schlugen schneller als gewöhnlich; mit jedem Lidschlag flogen Tropfen wie aus einer Schleuder. Erzogen, den Tatsachen nicht auszuweichen, sah ich meinen Großvater aufmerksam an. Zum ersten Mal erfasste ich ihn ganz, die kraftvolle, mittelgroße Gestalt, seinen Kopf mit den kräftig gebildeten Zügen, mit Wangenfalten, mahlenden Kiefern, die lang herabhängende Nase.
»Am Abend davor hat sie gesagt, nun hör doch mal zu, wenn ich dir was erzähle«, begann er, »gerade heute will ich dir was erzählen. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat, ich weiß, dass wir gebratenen Fisch aßen und Bier tranken. Nachts bekam sie einen Gehirnschlag. Sie lebte noch, als der Arzt kam. Während er sie untersuchte, starb sie. Auf ihrer Nähmaschine liegt noch ihr Zeug, sie ist immer mit mir rumgezogen, mein Junge, ich bin viel auf Reisen gewesen, bis ich dann in Berlin fest wurde. Sie ist tot, vergiss sie nicht.«
Mir wurde bei, dieser Erzählung klar, dass er nicht gelogen, hatte. Er war wirklich in Amerika gewesen, und es gab auch diesen Seeoffizier, mit dem er die Schlacht bei Skagerrak durchgestanden, jenen Mann, der meinem Großvater später die Verwalterstelle verschaffte, ihm zu Wohlstand verhalf. Und ich begriff auch, dass er eine Schuld abtragen wollte; er war nicht mehr sicher, ob er richtig gehandelt hatte.
Barbara gesellte sich zu uns, und damit waren die mir nahestehenden Menschen um mich. Wir gingen hinunter in die Leichenhalle, dumpfer Geruch nach Verwesung schlug mir entgegen. Ich geriet in, Panik. Die beiden neben mir schoben mich vor sich her, näher an den offenen Sarg heran. Zu Häupten meiner toten Großmutter brannten Kerzen. Zunächst sah ich nichts als eine weiße, zerfließende Masse, von den Füßen bis zum Kopf war die Kohlkoppen nicht in das herrliche Weiß eines Segels am Sommertag gehüllt, sondern in das graue, schmutzige oder bestaubte Weiß, wie ich es hier zum ersten Mal sah. Weiter erblickte ich einen formlosen Klumpen, einen Haufen grünlichen Stoffes, den ich zu meinem Schrecken als die Hände meiner Großmutter erkannte oder eben nicht erkannte, den Händen fehlte das Leben. Man hatte sie nach christlicher Bestattungssitte gefaltet, aber den übereinanderliegenden, halb miteinander verflochtenen Händen gebrach es an Kraft und an Wärme. Schwer konnte ich mir vorstellen, dass mich diese Hände noch vor ein paar Tagen gestreichelt hatten. Meine Großmutter war eigentlich brünett. Jetzt sah ihr Gesicht grünlich-grau aus. Auch die weißen Haare wirkten leblos wie Glaswolle. Ich sagte mir, diese furchtbare Starre, diese absolute Reglosigkeit, dieses endgültige Nichts, das ist der Tod, der gleiche, der mit den Stukas fliegt, und so ähnlich wie meine Großmutter sehen die Kinototen in Wirklichkeit aus, wenn man sie aufbahrt, was man ja zweifellos tut, denn jeder Tote hat Angehörige. Zugleich kontrollierte ich diesen Einfall, der mit persönlicher Trauer um einen Menschen gar nichts zu tun hatte, und mir fiel ihre Frage ein: Wer wird der erste Tote unserer Familie sein? Für mich verknüpften sich endlich beide Ereignisse, Krieg und Schrecken, ich fand einen Zusammenhang darin und stand ziemlich ratlos und nach Fassung ringend vor dieser Toten.
Meine Tante Barbara trat näher an den Sarg heran. Ich wurde erst gewahr, dass sie einen Handstrauß mitgebracht hatte, als sie versuchte, die Hände der Toten zu lösen, um den Strauß dazwischen zu stecken. Ich fand die Kaltblütigkeit meiner Tante beachtlich, wollte ihr nicht nachstehen und tat unbedachterweise einen Schritt auf den Sarg zu. Da schlug mir ein unbeschreiblicher Geruch entgegen. Ich wankte, flüchtete zurück, prallte gegen meinen Großvater, der meine Schultern fasste und mich wie einen Schild vor sich hielt. Unterdessen war ein Mann herangekommen, der meiner Tante half. Er trat hinter den Sarg zurück, und ich entdeckte einen zweiten Mann. Beide hielten Mützen in den Händen. An ihrem Ernst und Respekt fand ich meine Haltung wieder. Mich umdrehend, sah ich meine Familie hinter uns versammelt. Ich stand ganz vorn, man billigte mir eine wichtige Rolle zu. Die Tote hatte an mir gehangen, an ihrem ersten Enkel, die Familie setzte Hoffnungen in meine Entwicklung, und hier in der Leichenhalle entdeckte ich den Vorzug, jung zu sein, alles noch vor mir zu haben: das Leben.
Als wir hinaufgingen, hallten die Schläge, und auf meinen fragenden Blick sagte mein Großvater, man schließe jetzt den Sarg. Wir traten in die Kapelle ein. Der Pfarrer kam uns entgegen. Er reichte allen die Hand, dann formierte sich ein Zug, und der Geistliche setzte sich an die Spitze. Eine Orgel begann zu spielen, ein Chor sang: Ein feste Burg ist unser Gott / Ein gute Wehr und Waffen / Er hilft uns frei aus aller Not / Die uns jetzt hat betroffen / Der alt böse Feind / Mit Ernst er's jetzt meint; / Groß Macht und viel List / Sein grausam Rüstung ist; / Auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Ich unterwarf mich willenlos dieser Stimmung, ähnlich der in unserer Aula. Während die Orgel ausklang, legten wir unsere Kränze und Sträuße in die Hände der Männer, die den Sarg aufgestellt hatten. In der Kapelle brannten zahlreiche Kerzen, trotzdem stieg eisige Kälte von den Fliesen auf. Ich saß neben meinem Großvater und meiner Tante Barbara.
Wir beteten schweigend. Das heißt, ich betete nicht, faltete nur die Hände. Ich hatte kein Gebet, und es kam mir sinnlos vor, eine Formel an einen Unsichtbaren zu richten, der das alles ja gewollt hatte oder zumindest zugelassen. Mich in ein Stillhalten und Zustimmen zu begeben, einen Dank auszudrücken oder mich überhaupt menschlich zu diesem Tod zu verhalten - das brachte ich noch nicht fertig.
Nach der Einleitung sprach der Geistliche. Ich hörte einen zusammenhängenden Bericht über das Leben meiner Großmutter, hörte, dass sie in Schwedt geboren war, 1880, Weißnäherin lernte, früh heiratete, in glücklicher Ehe gelebt hatte und ohne lange Krankheit gestorben war. Mir schien das wenig, ihre Lebenslust, ihre Güte und Tatkraft, ihre äußere Erscheinung blieben mir unberücksichtigt. Der Geistliche kannte meine Großmutter nicht so wie ich.
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