1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Dieter Bruchner gehörte halb und halb zu uns, was kaum an ihm lag, er wurde von seiner Mutter streng gehalten. Sein Vater arbeitete am Theater, aber nicht als Schauspieler.
Außer diesen Freunden gab es noch Zugvögel, die eine Zeit lang kamen, wegblieben, wieder einflogen und sich erneut zurückzogen, wie Schott, dessen Vater ein Farbengeschäft besaß. Schott, der immer reichlich mit Geld versehen war und dessen Grinsen wir alle als abstoßend empfanden.
Aus welchem Grunde wir vier oder zeitweilig fünf uns zusammenfanden, drückte der allwissende Ludwig so aus: »Wir gehören zusammen, wir machen doch diese Pantinenschule nur noch zwei Jahre mit.«
Dank meiner Freunde überwand ich die Furcht vor Lehrer Zissel und fasste das Ziel in den Blick, der Pantinenschule möglichst schnell zu entrinnen.
›Treptow in Flammen›, Verena und mein Vater würden in Urlaub fahren, ich sollte zu Mattias nach Wendisch-Rietz oder in die Berliner Wohnung. Wir fuhren mit einem neuen, gebraucht gekauften Wagen nach Treptow, Verena, mein Vater, ich und meine Freunde, um Abschied zu feiern für die Dauer der Ferien. Den Wagen hatte der alte Mattias bezahlt, und wir waren die Ersten aus unserem Bekanntenkreis, die ein Auto besaßen.
Es war eine große Limousine, durch ein Glasfenster im Innenraum geteilt. Verena hatte die Scheibe zurückgeschoben, um mit uns reden zu können, wahrscheinlich mehr noch, um zu hören, was wir redeten.
»Ihr habt geredet, was kleine Jungen so reden, ihr ward natürlich begeistert von dem Auto, von der Fahrt und den in Aussicht stehenden Vergnügungen.«
Treptow in Flammen, damals ein wöchentliches Großfeuerwerk. Als wir in dem Vergnügungspark ankamen, waren wir überwältigt: die Menge Menschen, der Lärm, das Angebot an Möglichkeiten.
»Ihr wolltet unbedingt alles oder soviel wie nur möglich sehen und machen.«
Ich erinnere mich an einen Mann, der mit einer Riesenkanone auftrat. Goll vermutete: »Der schießt sich selbst in die Luft.«
Ich hielt es für unmöglich sich in die Luft zu schießen, ohne getötet zu werden, aber Goll zuckte die Schultern: »Mein Vater hat so was erzählt, ich glaube, die Zeitung musste es einrücken.«
Damit wurde das Unmögliche wahrscheinlich.
Das Rohr der Kanone wurde hochgedreht, mit aller Umständlichkeit zogen die Gehilfen des Artisten ein Netz. Das Rohr ragte steil in den Himmel, und es wurde zur Gewissheit, dass sich dieser Mann in die Luft schießen lassen würde.
»Es ist ungefährlich«, sagte mein Vater, »wahrscheinlich ist eine Art Sprungfeder in dem Rohr, und es kommt nur darauf an, dass der Mann in das Netz fällt.«
Goll nickte spöttisch, und seine Miene machte mir bewusst, dass sich mein Vater albern benahm, sich und uns über die Gefahr hinwegtäuschen zu wollen.
Nun stieg der Mann noch in einen Schutzanzug, ich verstand, dass er die Spannung in diesen Sekunden erhöhen wollte, aber ich konnte jetzt keine Spannung mehr empfinden, nachdem Goll die Sache derart abgetan hatte. Nur Verena nahm alles für bare Münze, wie ich ihren ängstlichen Blicken entnahm. Endlich kletterte der Mann durch einen Einstieg in die Kanone. Der Schuss krachte, oben flog der Mann aus dem Rohr und landete mit ausgebreiteten Armen im Netz. Ein bisschen Bewunderung kam über uns.
Jendokeit sagte: »Hat geklappt.«
Mein Vater nickte. »Wollt ihr was trinken oder essen?« Wir suchten ein Zelt auf und aßen etwas, dann trollten wir zum Karussell, zum Riesenrad, und allmählich senkte sich der Abend, das große Feuerwerk begann, die Liebesinsel leuchtete rot, grün und weiß.
»Deine erste Zeit in der Volksschule«, Verena lächelte nachsichtig.
Wir standen im Treptower Park auf der Höhe der Sternwarte, seit jenem Tag des Feuerwerks waren viele Jahre vergangen. In der Allee wuchsen Ahornbäume, ihre Rinden schimmerten hell wie die Haut weißer Elefanten. Zu Tausenden hingen die stachligen Samenkapseln in den Zweigen. Der Refraktor der Sternwarte war ausgefahren, das Rohr stand spitzwinklig über dem Dach des Gebäudes, und mir fielen die Nächte ein, die ich hier vor Jahrzehnten mit meinem Vater verbracht hatte, in Beobachtungen und Berechnungen vertieft.
»Ludwig war ein ernstes Kind, aber auch sehr vorlaut«, sagte Verena, »ich hätte dir geraten, den Umgang mit ihm einzuschränken, wäre das möglich gewesen. Ich wusste, dass ihr zwei Jahre später ohnehin auf dem Gymnasium zusammentreffen würdet. Ich ging mit deiner Schwester, das war übrigens der Grund, weshalb wir dich in diesen Ferien nicht mitnahmen.«
Das stimmte, und doch sagte sie die Unwahrheit. Wie immer suchte sich Verena als unschuldig darzustellen, wie immer bemühte sie das Schicksal; wir konnten nicht anders, an uns hat es wahrlich nicht gelegen.
»Mama, ihr habt euren Urlaub stets allein verbracht, ich war euch im Wege.«
»Wie kannst du das sagen!? Wir hätten dich ...? Im Wege bist du uns nicht gewesen, wir haben alles für dich getan, alles. Einmal haben wir dich zumindest mitgenommen.«
Sie hatten mich mitgenommen nach Heringsdorf, aber vierzehn Tage darauf reiste ich mit dem alten Mattias nach Berlin zurück und weiter nach Wendisch-Rietz,
»Damals war ich mit Felix schwanger; und ich habe mich geschämt vor dir, einem großen Jungen.« Sie schob ihren Arm unter meinen und führte mich weiter. »Gibt es das Eierhaus noch? Ich meine, wir sollten einkehren?«
»Das ist zu weit, Mama. Wir fahren nachher in ein anderes Lokal.«
Sie gab sich zufrieden. Wir gingen hinunter zum Wasser und sahen hinüber zur ehemaligen Liebesinsel.
»Schrecklich ist diese Sucht, heute alles mit neuen Namen zu belegen.«
Ich fand das zwar auch, sagte aber nichts, denn was sie Sucht nannte, entsprang dem Bedürfnis, sich anzueignen, was einst anderen gehört hatte, in Besitz zu nehmen durch neue Namen, ein magischer Akt.
»Eher wohl Überredung, Täuschung.« Sie ahnte, was ich dachte, zwischen uns gab es seit Langem keine Geheimnisse mehr. Wir spielten unsere Rollen, unser Spiel um Vergangenheit und Gegenwart.
Sie kehrte zum ersten Gegenstand unseres Gespräches zurück. »Hat es dich getroffen, dass Ludwig damals erkrankte?«
Es war eine meiner schlimmsten Erinnerungen. Wir hatten im Park gespielt. Mit einem selbst gebauten Wagen, einem ehemaligen Kinderwagenchassis, waren wir zu dritt einen Berg hinuntergerollt, immer wieder und mit allem Mutwillen, der in solch ein Spiel kommen kann, mit Rempeln und Stoßen, bis sich Goll am Knie eine Risswunde zuzog. Aus der Verletzung entwickelte sich eine Hüftgelenkentzündung, Ludwig lag monatelang in Gips, und als er aufstand, zeigte es sich, dass sein Bein steif geworden war.
»Es war beinahe steif«, sagte Verena, »und das Schlimmste ist, dass du dir die Mitschuld daran gibst. Dein Freund Jendokeit, der Sohn dieses SS-Mannes, hat es natürlich leichter ertragen.«
Warnend drückte ich ihren Arm.
»Bin ich wieder zu weit gegangen? Habe ich nicht recht?«
»Du hast nicht recht, Verena Stadel, und letzten Endes haben wir es gerade nötig, uns über andere aufzuhalten.«
Auch Jendokeit fühlte sich damals schuldig. Wir besuchten Goll beinahe täglich. Er lag auf der Couch, seine Mutter pflegte ihn, und wir saßen um das Lager herum.
»Wenn du wieder auf bist, Weißer Adler, bauen wir uns eine Höhle.«
Goll sah Jendokeit prüfend an, dann entstand ein leichtes Lächeln auf seinem düsteren Gesicht.
»Wenn die Sieben Ratsfeuer lohen«, fügte ich hinzu, »und der Graue Biber wandert, dann wollen sich meine roten Brüder am Großen Felsen versammeln, um zu beraten, wie dem Weißen Adler zu helfen ist.«
Freundlich nickte Goll, aber ich hatte das Gefühl, ihm war unser kindliches Spiel schon recht gleichgültig geworden. Sein ›Howgh‹ klang mehr wie eine Höflichkeit als nach einer Zustimmung.
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