Dieser Jodgeruch des Meeres, rufend, ewig rufend; dieses rufende, ewig rufende Rauschen der kommenden und gehenden Wellen, zusammenfließend aus einer unendlichen Vielzahl einzelner trockener Geräusche und einzelner Zischlaute, aus Rascheln, Plätschern, trockenen Schlägen, dessen monotone Einförmigkeit so unendlich reich ist, immer neu und immer voller Bedeutung, rufend und seinem Rufen erlaubend, wieder und wieder zu rufen, immer stärker und immer drängender; dieses Rauschen der Brandung, das ganz aus Vertikalen besteht, körnig ist wie ein gotischer Dom, nie zäh, nie zerrend, nie klebrig, ungeachtet des Feuchten nie feucht, nie sonor und nie guttural; dieses Grün des Meerwassers, das in die Tiefe ruft, aber nicht süßlich und nicht klebrig, das fluoresziert und von innen her leuchtet von einem körnigen und unendlich feinen Licht, das sich in dem ganzen Stoff verbreitet, ein Grün, immer neu, immer bedeutungsvoll – all das, das Rufende und Vertraute, ist auf ewig in eins zusammengeflossen, in ein Bild, das der geheimnisvollen lebenschaffenden Tiefe; seither sehnt sich die Seele, sehnen sich Seele und Leib nach ihm, suchen es und finden es nicht, sie sehen das Wiedergesuchte nicht, selbst nicht in dem wiedererblickten, jetzt aber anders, nur mehr äußerlich wahrgenommenen Meer.
Jenes Meer, das selige Meer der seligen Kindheit, kann ich nicht mehr sehen – es sei denn in mir selbst. Es ist davongegangen, wahrscheinlich dorthin, wohin auch die Zeit geht, in das noumenale Reich. Aber dieses Noumen habe ich einmal wirklich gesehen, gerochen, gehört. Und gewisser als alles andere, was ich später noch erfuhr, weiß ich, daß diese meine Erkenntnis wahrer und tiefer ist, wenn sie auch von mir gegangen ist – von mir gegangen, aber dennoch auf ewig mein.
Aber einzelne Erscheinungen rühren manchmal dieses verborgene Wissen auf, es wird wieder aufgedeckt, und man erbebt. In den fluoreszierenden Stoffen, besonders in dem apfelgrünen Leuchten der Crookes-Röhre glaube ich es wiederzusehen, das Meer meiner Kindheit; im Geruch der Algen, ja selbst in der Jodtinktur im Reagenzglas rieche ich das metaphysische Meer, und seine Brandung höre ich in den kommenden und gehenden Rhythmen der Fugen und Präludien von Bach und in dem trocken klingenden Brausen der auseinandergezogenen Glut. Ich erinnere mich meiner Kindheitseindrücke, und ich irre mich nicht: Am Ufer des Meeres stand ich von Angesicht zu Angesicht der vertrauten, einsamen, geheimnisvollen, unendlichen Ewigkeit gegenüber, aus der alles fließt und in die alles zurückkehrt.
1920.14.V.
Sie rief mich, und ich war bei ihr. Unverwandt in meiner Seele der Ruf des Meeres, der sprühende Laut der Brandung, die unendliche, aus sich selbst leuchtende Fläche, auf der ich flimmernde Punkte unterscheide, immer kleiner und kleiner werdend, allerkleinste Teilchen, aber nie verschmelzend. Mein Körper verlangt nach der Salzigkeit des Meeres, nach der salzigen und jodgetränkten Luft, einer sprühenden Luft, die kleinste Salzkristalle trägt, und es ist manchmal eine Wonne, sich wenigstens über ein Reagenzglas mit Jodtinktur zu beugen. Quälend das Verlangen nach dem Geschmack des Meeres, nach Seefisch, nach Hummer, man hungert nach Meeresnahrung, und ich glaube, wenn mir plötzlich ein Häufchen Meeresalgen vorkäme, ich äße sie glatt auf. Und es »verlangt« einen doch nach dem, was der Organismus braucht und was ihm fehlt. Mir fehlen diese Geschmacksstoffe und Nahrungsmittel, die nach den Evolutionisten, etwa [René] Quinton [»L’ eau de mer«], die ursprünglichen im Leben waren.
Ich glaube natürlich den Evolutionisten kein Wort, ich denke, daß selbst ein Mann wie Quinton seine Theorie mitnichten aus rationalen Motiven entwickelt, sondern sich selbst das süße Märchen seiner Kindheit am Meer erzählt hat. Wenn die Schüler und die Anhänger begreifen könnten, worauf sich eigentlich die Theorie ihrer Lehrer gründet, auf welche der Rationalität fernen Intuitionen der Kindheit, würden sie mit ihrem jurare in verba magistri [auf die Worte des Lehrers schwören] aufhören und dafür tiefer in die verborgene, kindlich geniale Persönlichkeit dieser Lehrer einzudringen versuchen.
Und weiter: Eine mir innerlich, beinahe leiblich vertraute Sprache sprechen in der Mathematik die Fourier-Reihen und andere Gliederungen, die jeden komplizierten Rhythmus als ein Ganzes, als ein unendlich großes Ganzes von einfachen Gliedern darstellen. Vertrautes sagen mir kontinuierliche Funktionen ohne Differentialquotient und stetig diskontinuierliche Funktionen, wo alles gestreut ist, wo alle Elemente erhalten sind. Wenn ich in mich hineinhöre, entdecke ich im Rhythmus des inneren Lebens, in den Klängen, die mein Bewußtsein erfüllen, diese auf ewig in mein Gedächtnis eingegangenen Rhythmen der Wellen, und ich weiß, daß sie es sind, die in mir im Schema jener mathematischen Begriffe ihren bewußten Ausdruck suchen. Ja. Denn der rhythmische Klang der Welle wird geschnitten von kleineren und schnelleren Rhythmen, Rhythmen zweiter Ordnung, diese wiederum werden gegliedert durch Rhythmen dritter Ordnung und diese durch solche vierter Ordnung usw., usw. Wie weit wir auch immer gehen, nie hört das Ohr die letzte Gliederung, die nicht weiter zu gliedern ist, die unartikuliert bleibt wie ein der Brust sich entringender Laut, der sich dem Bewußtsein mitteilt; immer scheint der Laut gestreut und die Kontinuität der Welle wieder und wieder zerschnitten, bis ins Unendliche gegliedert, und sie gibt daher dem Begreifen immer neu Nahrung. Später, als ich das berühmte Glockenläuten von Rostow hörte, wo sich immer schnellere Rhythmen verflechten und überlagern, erinnerte ich mich wieder an die rhythmische Struktur der Meeresbrandung und die Fugen von Bach, die Urrhythmen meiner Seele. Tatsächlich setzt sich das Rauschen der Brandung aus den Geräuschen des Falls der einzelnen Tropfen des Meereswassers zusammen. Leibniz versichert, daß wir dieses einzelne Fallen nicht hören und nur das summarische Rauschen an unser Ohr dringt. Aber das stimmt nicht; wir hören es, wir hören das Fallen eines Tropfens, und wir hören das Fallen der Teile des Tropfens und so bis ins Unendliche, wenn wir hinhören, wenn wir uns dem Eindruck der Brandung in unserem Herzen, in der Tiefe unserer Seele hingeben: Da entdecken wir die unendliche Gestreutheit des Lautes, der bis in seine kleinsten Elemente gestreut ist, immer deutlich geschieden und trocken. Die geheimnisvolle, unendliche Fläche des Meeres, unendlich in ihrem Gehalt und in ihrem Klang, ist ebenso unendlich in ihrer Körnigkeit, in der feinsten Körnigkeit ihres Leuchtens. Das Tosen des Meeres – ein Orchester, eine unendliche Vielzahl von Instrumenten. Einen Klang gibt es, der ihm in seinem Gehalt verwandt ist und auch den schaffenden Tiefen des Seins entspringt. Es ist das Ornament der einander einholenden und überholenden Rhythmen, das entsteht, wenn Tropfen in Höhlen fallen – auch hier Tropfen, wo das Wasser durch Decken und Wände dringt. Auch hier hört man in den Rhythmen immer neue Rhythmen und auch hier bis ins Unendliche. Sie schlagen wie unzählige Pendel, die die Zeit des Lebens der ganzen Welt festlegen, verschiedene Zeiten und verschiedene Pulse unzähliger Lebewesen. Und wenn du in die Werkstatt eines Uhrmachers kommst, dann hörst du dort ein ähnliches Rauschen von einer Vielzahl von Pendeln, auch das vertraut, auch das an den Schoß der Erde und an die Tiefen des Meeres erinnernd.
Hafen. Auf andere Weise, dringlicher, intimer, aber geheimnisvoller und verlockender zog mein Wesen diese Tiefe im Hafen an. Die großen, in den Meeresboden gerammten hölzernen Pfähle und Pfosten sind gewissermaßen gefurcht von geheimnisvollen Hieroglyphen, den Gängen der Holzwürmer. Das hatte ich mir gut gemerkt: Gerade in solchen Öffnungen wohnen unbekannte Wesen, Geister, die Bukas [Kobolde, Hausgeister], das hatte einmal meine Kinderfrau gesagt, als ich, ganz in die Betrachtung eines dunklen Ganges an einem Balkonpfosten versunken, ungeduldig gefragt hatte, was das sei: »Hier wohnt der Buka.« Ich wußte genau, schon damals, daß mir nur ein einfacher Mensch die Wahrheit offenbart, und als ich sie von meiner Kinderfrau erfahren hatte, war ich innerlich sofort überzeugt, nur so konnte es sein, aber ich verbarg natürlich, um nicht unnütz Gespräche in Gang zu bringen, meine Entdeckung vor den Eltern und schwieg nur vielsagend, wenn sie mir etwas von Würmern erzählten.
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