Attila Jo Ebersbach
Erinnerungen eines Lausbuben
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Inhaltsverzeichnis
Titel Attila Jo Ebersbach Erinnerungen eines Lausbuben Dieses ebook wurde erstellt bei
Mein erster Akt
Die Flucht
Der Fremde mit der Schokolade
Prügel im Theater-Foyer
Bis nach Amerika gucken
Der Kriegsheimkehrer
Die Geisterstunde
Der Klassenstreik
Oh, mein Papa ...
La Boule Noire
Neunzehn Mädchen Huckepack
Poseidon lässt grüßen
Der Wasch(t)raum
Und ewig lockt das Weib
Zurück aus einer anderen Welt
Impressum neobooks
Geburtstagsoper, die Erste
Mein Leben begann, als Papa die Türe aufriss und eilig in Stadingers Schmiedewerkstatt trat.
„He, Konrad!“, rief er und ging auf den Grafen zu.
Der drehte sich um. „Was gibt’s?“
„’ne Neuigkeit“, flüsterte er. „Nicht weit von hier, da hält ein Wagen, ich höre fragen und schau hinein; wer, denk ich, kann das wohl sein?“
„So sprich: Wer war’s?“
„Das Fräulein von Katzenstein, Eure Braut.“
„Hol sie der Teufel!“, fluchte der Graf und machte mit der Hand eine Bewegung, als schleudere er ein lästiges Insekt von sich.
Es war genau zwanzig Uhr sechzehn. Während Papa als Knappe Georg und sein Herr, der Graf von Liebenau, die sich beide bei Stadinger als Schmiedegesellen eingeschlichen hatten, in Lortzings Komischer Oper „Der Waffenschmied“ darüber nachdachten, wie sie es anstellen könnten, das ungeliebte Fräulein von Katzenstein loszuwerden und an ihrer Stelle Stadingers Tochter als Braut für den Grafen zu gewinnen – da tat ich meinen ersten Schrei.
Am Nachmittag hatte Papa meine Mutter in die Klinik begleitet und es war abzusehen, dass ich im Laufe der kommenden Stunden eintreffen würde. Meine Eltern hatten vereinbart, dass die Hebamme sofort nach meiner Geburt den Inspizienten im Theater anrufen und ihm durchgeben solle, ob die Geburt gut verlaufen und ob es ein Junge oder ein Mädchen sei. Denn begreiflicherweise saß Papa wie auf glühenden Kohlen. Ein Anruf beim Inspizienten, der hinter der Bühne sozusagen die Fäden in der Hand hält, ist der kürzeste Weg für eine solche Nachricht. Doch Papa hatte just in dem Moment seinen Einsatz, als das Telefon klingelte.
In Windeseile sprach sich die Neuigkeit hinter der Bühne herum. Und wer Theaterleute kennt, der weiß, dass diese stets zu einem Spaß auf Kosten ihrer Kollegen aufgelegt sind. Potz Donner! Hier war sie wieder, die Gelegenheit, einen „lieben Kollegen“ aufs Glatteis zu führen! Und sie vereinbarten strengstes Stillschweigen untereinander.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Akt erforderte der Umbau der Kulissen eine kleine Pause. Diese nutzten einige der Sänger, die Bekannte im Publikum hatten, denen mitzuteilen, dass der Darsteller des Georg vor wenigen Minuten Vater eines strammen Jungen geworden war und baten um ihre Unterstützung bei dem Streich.
Die erzählten es ihren Sitznachbarn, die wiederum den ihren, und bald wusste das ganze Theater Bescheid, auch die, die im ersten Auftritt mit Papa auf der Bühne gewesen waren. Nur mein armer Vater bekam in seiner Arglosigkeit von alledem nicht das Geringste mit.
Dann kam die Stelle, an der der Schmiedemeister Stadinger seinem Gesellen Georg die Hand seiner Tochter anbietet, damit der Graf endlich von ihr ablasse, die Georg aber natürlich aus Rücksicht auf seinen Herrn mit allen möglichen und unmöglichen Ausreden auszuschlagen versucht.
Der Meister, erbost darüber, zitiert Georg zum Fest des Jubiläums seiner fünfundzwanzigjährigen Meisterschaft mit den Worten:
„Nun schweigst du still, sprichst nicht mehr drein. Du findst beim heut’gen Fest dich ein; dort wird, wie sich’s gebührt, Verlobung deklariert.“
Georg will auf keinen Fall an diesem Fest teilnehmen, wird gewaltsam herbeigeholt und muss ein Lied singen. In diesem ist die Rede von „einem jungen Springinsfeld“, der auf Reisen geht, Ehre, Gut und Geld erwerben will und nach gescheitertem Abenteuer reumütig wieder zurückkehrt.
„Ich stand ziemlich weit vorn, direkt am Orchestergraben und sang mein Lied dem Publikum zugewandt“, begann Papa, als er mir die Geschichte später einmal erzählte. „Plötzlich fiel mir auf, dass sich im Saal eine mir unerklärliche Unruhe breitmachte. ‚Was machst du falsch‘, dachte ich irritiert und schaute an mir herunter, ob vielleicht irgendwelche Knöpfe offen standen oder dergleichen. Aber dem war nicht so. Nach und nach standen immer mehr Besucher auf, winkten und lachten zu mir herauf ...“
„Kam dir nicht in den Sinn“, unterbrach ich ihn, „dass es vielleicht irgendwie mit meiner Geburt zu tun haben könnte?“
„Wo denkst du hin!“, lachte Papa. „Wie hätte ich denn ahnen können, dass das Publikum eingeweiht war? Ich musste doch davon ausgehen, dass du noch nicht geboren warst und irgendwann ein Anruf aus dem Krankenhaus käme.“ Ich sah, wie die Erinnerung ihn einholte, denn auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
„Stell dir vor“, fuhr er fort, „ich war so durcheinander, dass ich mich wie ein Anfänger verhedderte und fast weiterzusingen vergaß. Wie besoffen fühlte ich mich und muss ein saudummes Gesicht gemacht haben, denn das Lachen schwoll immer mehr an. Glaub mir, ich wäre am liebsten im Boden versunken, so etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. In meiner Not drehte ich mich um, weil ich hoffte, dass eventuell hinter mir auf der Bühne etwas nicht in Ordnung sei und es gar nicht an mir läge. Und da sah ich die Bescherung: Heimlich, still und leise hatten sich sämtliche Kollegen hinter mir versammelt. Im gleichen Moment brach das Orchester ab, mein Herr, der Graf, trat vor und rief in den Saal: ‚Georg, du mein getreuer Knappe, hast heute dein Meisterstück vollbracht! Es ist vierundfünfzig Zentimeter lang und wiegt dreitausendundsechshundert Gramm. Herzlichen Glückwunsch, Vater eines Sohnes!‘“
Papa legte mir die Hand auf die Schulter, und ich sah ein paar Tränen in seinen Augen.
„Dann – mit einem Trommelwirbel – setzte das Orchester ein“, fuhr er fort und wischte sich über die Augen. „Und vereint im Chor sangen das Publikum und meine Kollegen wieder und wieder den Refrain des Liedes: ‚Das kommt davon, wenn man auf Reisen geht! Das kommt davon, wenn man auf Reisen geht!‘
Ich weiß nicht“, schloss er seinen Bericht, „welche Erleichterung größer war: die, dass der Spuk nun ein Ende hatte oder die, dass du endlich da warst. Ich glaube aber, es war wohl Letzteres.“
Gebannt starrte ich auf ihre Lippen, erpicht, mir kein Wort der erschütternden Schilderung ihrer Flucht aus Schlesien entgehen zu lassen, damals, im Winter fünfundvierzig, ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes. Soldaten auf dem Rückmarsch jagten Neißebrücken in die Luft und überholten den Treck auf seinem Weg gen Westen.
Über Nacht hatte sie alles aufgeben müssen, war geflohen, mit kaum mehr, als was sie am Leibe trug. Das Kind im Arm, den Rucksack mit Notwendigem auf ihren schmalen Schultern.
Hinter sich das Inferno.
Vor sich die Ungewissheit.
Schon die Wochen zuvor seien die reinste Hölle gewesen, erzählte sie unter Tränen. Die Angst vor Russen und Polen, vor Vergewaltigung, Brandschatzung und Plünderung. Sie war allein, ihr Mann wer-weiß-wo im Krieg. Doch sie hatte Haus und Hof nicht ohne Not aufgeben wollen.
Erst im letzten Moment war sie aufgebrochen.
Nach endlos dauernder Qual durch schneeverwehte Einöde; Erfrorene am Wegesrand und aufgeknüpfte Deserteure als Warnung für Fahnenflüchtige; als sie schon von mehreren Karren mit Pferden, auch einem Lastwagen, überholt worden war; sie das vor Hunger und Kälte schreiende Kind unter Tränen an ihre Brust gedrückt hatte und sich, an einen Baum gekauert, bereits aufzugeben bereit war – da hatte ein Karren gehalten. Ein schäbiger Leiterwagen, von einem müden Klepper gezogen und voll mit Hausrat. Ein älteres Paar auf dem Bock, in Decken gehüllt.
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