„Mühsam stieg die Frau ab“, erzählte sie, „und kam auf mich zu. Nahm mir das Kind aus dem Arm und reichte es ihrem Mann. Der hüllte es in eine warme Decke. Die Frau zog mich hoch und musste dabei all ihre Kraft aufwenden, denn ich war schon steif vor Kälte und nicht mehr in der Lage, mitzuwirken. Sie half mir auf den Wagen, machte inmitten des Gerümpels ein schützendes Lager zurecht und gab mir ein Stück trockenes Brot und lauwarmen Tee. Derart gestärkt, konnte ich dem Kind die Brust reichen. Endlich satt und zufrieden, schlief es ein.“
Sie machte eine kleine Pause und sah mich mit verschleierten Augen liebevoll an. Ich legte meine Hand auf ihren Arm, und an ihrem Zittern erkannte ich, wie sehr sie die Erinnerung erschütterte und wie schwer es ihr fiel, mir von damals zu berichten.
„Dann kam die Frau nach hinten“, erzählte sie weiter. „Sie nahm mich in den Arm, drückte mich an sich und streichelte mir beruhigend den Kopf. ‚Wir, ich und mein Mann‘, sagte sie nach einer Weile, ‚würden uns gerne um Sie kümmern. Wissen Sie, wir haben keine Kinder mehr. Sie fielen beide in Russland. Zwei Söhne. Prächtige Kerle ...‘ Sie wischte sich über die Augen und ergänzte: ‚Wir wären daher glücklich, wenn wir Ihnen und Ihrem Kind helfen könnten. Wir kommen uns sonst so nutzlos vor.‘
Ich war dermaßen überwältigt“, fuhr sie fort, „dass ich die Frau nur wortlos anstarren konnte, so unwahrscheinlich schien es mir, dass in dieser furchtbaren Zeit ein Mensch so gütig zu einem anderen sein konnte.
Dann brach ich in Tränen aus“, beendete sie schließlich ihren Bericht. „In Freudentränen. Und nur dem Umstand, dass dieses liebe Paar uns aufgenommen und bei sich behalten hat, haben wir es zu verdanken, du mein Sohn und ich, dass wir heute noch leben.“
Der Fremde mit der Schokolade
Stets war es mir rätselhaft, wie es kommt, dass sich bestimmte Erlebnisse aus sehr frühen Jahren in einem Kindergedächtnis festsetzen können, für alle Zeiten wie eingebrannt, obwohl sich das Kind, abgesehen von dem betreffenden Ereignis, an den eigentlichen Zeitraum überhaupt nicht mehr erinnern kann.
Zwei solcher Erlebnisse sind für immer und ewig in meinem Gedächtnis haften geblieben, und wenn ich die Lider schließe, spulen sie wie ein Film vor meinem inneren Auge ab.
Ein brennendes Haus. Mama und Tante Hella stehen auf der Straße und fangen aus dem ersten Stock geworfenes Bettzeug und Kissen auf. Ich stehe etwas entfernt von den beiden und blicke verwirrt auf die Szene: Ich spüre die Hitze der Flammen, höre die Schreie der Menschen und begreife dennoch nicht, was sich vor meinen Augen abspielt.
Jahrelang verfolgte mich dieses Bild, aber ich wusste es nie einzuordnen.
Später einmal dann fragte ich meine Mutter, was das gewesen sein könne. Und auch sie erinnerte sich an jenen Tag. Es war, berichtete sie, ein Bild aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges und ich knapp zwei Jahre alt, als das Haus, in dem wir nach unserer Flucht aus Schlesien Zuflucht gefunden hatten, von einer Bombe getroffen wurde und abbrannte.
Die zweite Episode habe ich dann schon besser verstanden. Aber auch hier fehlt mir das Davor und Danach.
Es war gut ein Jahr nach Kriegsende und ich etwa dreieinhalb Jahre alt. Besuchte mit meinen beiden Kusinen Heidi und Claudia den Kindergarten der Ordensschwestern. An diesen selbst und all das Drumherum, auch an meine Kusinen, kann ich mich kaum mehr erinnern. Zwei Dinge jedoch sind es, die ich noch heute wie zum Greifen nah vor mir sehe: den Weg entlang der Kirche zum Kindergarten, zwischen Blumenbeeten und mit Kies bestreut – und Schwester Margarete: eine riesengroße, liebevolle und stets lächelnde Ordensfrau, in die ich irgendwie verliebt war.
Aber vielleicht erschien sie mir auch nur deshalb so groß, weil ich selbst noch so klein war.
Eines Vormittags, es muss Sommer gewesen sein, denn ich trug kurze Hosen und ein dünnes Hemdchen, kam Schwester Margarete aufgeregt zu mir.
„Du, komm schnell,“ rief sie, „dein Papa ist zurück!“ Damit nahm sie mich bei der Hand und zog mich eilends zu besagtem Kiesweg.
Die Sonne lachte vom Himmel, als mich die Schwester sachte auf den Weg schubste, selbst aber in der Tür stehen blieb.
Mitten auf dem Weg, in ein paar Metern Entfernung, sah ich einen großen, kräftigen Mann mit schwarzer Hose und weißem Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, der langsam in die Hocke ging und mich mit ausgebreiteten Armen anstrahlte.
Der Mann war mir fremd. Ich zögerte. Wusste nicht, was ich tun sollte. Schaute ängstlich zwischen ihm und Schwester Margarete hin und her. Hmm.
Sie kannte ich. Sie liebte ich. Aber diesen Mann, den kannte ich nicht. Obwohl – das Wort „Papa“ hatte ich irgendwann schon einmal gehört. Vielleicht von Mama. Trotzdem – ganz geheuer war mir das alles nicht. Also entschloss ich mich, lieber zu Schwester Margarete zurückzukehren. Bei ihr fühlte ich mich sicher.
Doch sie ließ es nicht zu. „Geh zum Papa“, sagte sie bestimmt, drehte mich wieder in seine Richtung und gab mir, wohl als Aufforderung zu ihm hinzugehen, einen kleinen Klaps auf den Po. Ich begann zu heulen.
Der Mann breitete die Arme aus. Lachte mich an und rief: „Söhnchen, komm her zu mir! Brauchst doch nicht zu weinen! Komm, dein Papa ist wieder da!“ Dabei schaute er so lieb, dass langsam das Eis schmolz.
Jetzt erschien er mir gar nicht mehr so ungeheuerlich. Ich hörte auf zu weinen. Drehte mich noch einmal zu Schwester Margarete um. Die nickte mir aufmunternd zu. Da fasste ich Mut und ging langsam auf den Mann zu.
Und mit einem Male zauberte er aus seiner Hemdentasche etwas hervor. Es war flach und hatte eine violette Hülle. Die riss er auf. Ich sah eine dunkelbraune dünne Tafel. Von der brach er ein Stück ab und hielt es mir hin. Ich weiß heute nicht mehr, ob mir Schokolade schon vorher bekannt gewesen war oder nicht. Aber die Verpackung hatte vielversprechend ausgesehen, also griff ich zu.
Papa sagte: „Schau, das ist Schokolade. Hab ich dir extra aus Amerika mitgebracht. Aus der Gefangenschaft. Kannst ruhig reinbeißen!“
Vorsichtig biss ich zu. Mmh, wie lecker! Meine Augen wurden groß. Und größer. Ich streckte ein Ärmchen aus und hielt ihm wortlos die offene Hand hin. Forderte mehr. Er gab mir noch ein Stück.
Langsam fasste ich Vertrauen zu ihm.
„Na, scheint dir ja gut zu schmecken!“, lachte er und nahm mich auf den Arm.
Zögernd ließ ich es geschehen. Mit braunbekleckerten Fingern im Mund drehte mich um und vergewisserte mich, dass Schwester Margarete als letzte Zuflucht immer noch da war.
Die Schokolade hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Wer einem so etwas Gutes mitbringt, folgerte ich mit kindlich-messerscharfer Logik, muss selbst gut sein. Langsam gewöhnte ich mich an seine Stimme, an seinen Geruch. Hatte auch nichts mehr dagegen, dass er mir nun den Kopf streichelte.
Und als er mich schließlich an sich drückte und mich auf die Wangen küsste, da war der Mann mit der Schokolade schon mein Freund geworden.
Und als dann schließlich Mama hinter einer Ecke des Kindergartens auftauchte, hinter der sie sich versteckt gehalten und uns beobachtet hatte, lachend uns beide umarmte, da hatte auch ich einen Papa.
Geburtstagsoper die Zweite
Inzwischen war Papa am Landestheater in Darmstadt engagiert und wir in eine Kleinstadt in der Nähe umgezogen.
Irgendwie hatte ich eines Tages mitbekommen, dass Lortzings Komische Oper „Der Waffenschmied“, meine Geburtstagsoper (siehe: Mein erster Akt ), auf dem Spielplan stand. Daher quengelte ich so lange, bis meine Mutter seufzend einwilligte, mich zu einer Abend-Vorstellung mitzunehmen.
Die fand – der Theaterbau war in der Bombennacht vom 11. auf den 12. September 1944 weitgehend zerstört worden – in den etwas beengten Räumlichkeiten der Orangerie statt.
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