Interessant waren die flachen, ovalen Kalkkiesel, mit denen wir uns die Taschen vollstopften. Hin und wieder fanden wir auch Kiesel, die von Natur aus ein Loch hatten; wir steckten den seltsamen Stein auf einen Stock und begeisterten uns an ihm, ja wir haben ihn geradezu abergläubisch verehrt. Die rätselhafte Öffnung mit ihren glatten, wie geleckten Rändern zog den Geist an und bemächtigte sich seiner. Öffnungen schienen überhaupt die geheimnisvollen Wohnungen des unbekannten zu sein, sie korrespondierten mit den geliebten Höhlen, unterirdischen Gängen, Kellern und dunklen Böden, mit Gruben, Straßengräben, Tunneln und langen Korridoren; in ihnen allen erkannte ich die Kräfte des Urdunkels an, in dem alles Lebende geboren wird, und ich wollte dorthin vordringen und mich für immer dort ansiedeln. Andere leere Räume sind zu gefährlich, als daß man sie ungestraft an sich heranläßt; aber diesen Öffnungen in den Steinen, so licht und so rein und so glatt und so warm in der Sonne, fühlte ich mich durchaus gewachsen. Tausendmal habe ich den Finger hineingesteckt, jedesmal mit dem gleichen Gefühl des Geheimnisvollen, dem weder die Zugänglichkeit dieser Öffnungen noch die Erklärungen von Vater oder Tante etwas anhaben konnten. Erst als Erwachsener erfuhr ich dann, daß diese Steine bei den Bauern »Hühnergötter« heißen und in die Hühnerställe gehängt werden, um die Hühner vor dem Hausgeist und den verschiedensten Krankheiten zu schützen. Wie das meinen kindlichen Gedanken entsprach, ich erkannte in diesen »Hühnergöttern« meine geheimnisvollen Kiesel wieder.
Am Strand bauten wir mit Hilfe von Stöcken Meeresbuchten, oder wir stießen die Stöcke in den Sand und blickten mit der gleichen Empfindung von etwas Geheimnisvollem in das dunkle Loch, in dem sich das Meerwasser sammelte. Es machte uns Spaß zuzusehen, wie der trockene und grau gewordene Sand von der Feuchtigkeit aufquoll und dunkel wurde. Manchmal gruben wir den Kies am Strand auf und stießen auf eine nasse Schicht und noch tiefer auf das steigende und fallende, das lebendige, atmende Wasser. Eine Grube zu graben, und sei es eine ganz kleine, kam uns immer wie eine magische Handlung vor: Das Wesen der Grube selbst ist geheimnisvoll. Kein Wunder. In der Grube ist lebendiges Wasser. Alles ist auf dem Wasser und in dem Wasser, und das ist nicht etwa das einfache, bekannte Trinkwasser, sondern ein geheimnisvolles bitter-salziges, verlockendes und unnahbares Wasser. In Batum ist dieser Gedanke an das Wasser ganz natürlich, weil Batum im Wasser und auf dem Wasser liegt. Wir erforschten dieses Wasser in den kleinen Löchern, leckten am Finger, den wir hineingetaucht hatten, und staunten über seinen bitter-salzigen Geschmack. Wie Tränen! Bedeutet das dann nicht, daß auch ich selbst aus Meerwasser bestehe? Überall diese Entsprechungen, was du auch anfaßt, alles führt dich wieder und wieder zum Meer.
Mit Stöcken fingen wir Medusen. Schöne Blumen, lichterfüllt schaukelten sie wie opalisierende Kelche im Wasser, zart eingefaßt von einem violetten Band. Wir wußten, daß sie brennen, aber das mußte so sein: Dem Geheimnisvollen nähert man sich nicht ungestraft. Wenn du sie herausholst, verdunsten sie auf den heißen Steinen und bilden einen farblosen Schleim, von dem schließlich nichts übrigbleibt. Jemand erzählte uns, wenn man Medusen zwischen Löschpapier lege und trockne und dies mehrere Male wiederhole, so bliebe ein schönes zartes Netz zurück. Ich bezweifelte das nicht, aber es kam mir vor wie ein fernes Märchen, die unmittelbare Erfahrung sagte mir einfach: Medusen sind Geschöpfe des Meeres, nichts anderes als Wasser, und zerfließen daher wie Wasser. In der Erde ist Wasser, in mir ist Wasser, die Medusen sind Wasser... Dem Aussehen nach ist alles verschieden, doch seinem Wesen nach eins.
Unter dem vom Meer Angespülten fanden sich zu unserem nicht nachlassenden Staunen die gehörnten Nüsse des Tschilím [der Wassernuß], die von ihrem Aufenthalt im Wasser ganz schwarz waren. Wir fürchteten sie, ihre Verwandtschaft mit den Meeresteufeln stand für uns fest, deshalb bemühten wir uns, diese seltsamen Nüsse nicht mit den Händen zu berühren, und wenn wir sie aufhoben, dann zögernd und mit Vorsicht: Wer weiß, was sie in Wirklichkeit sind und was sie tun werden. Die Tiefen des Meeres sind voller Geheimnisse und Überraschungen. Die Erwachsenen sagen, das seien Wassernüsse, und die Erwachsenen haben selbstverständlich recht, aber Erwachsene berühren die geheimnisvolle Seite der Dinge nie, entweder bemerken sie sie nicht oder sie verbergen sie vor uns, wahrscheinlich um uns nicht zu erschrecken; nie erzählen sie uns etwas von diesen im Verborgenen lebenden Dingen wie Teufeln, Nixen, Waldgeistem, ja nicht einmal von den lieblichen Elfen. Wir aber wußten, woher weiß ich selbst nicht genau, über all das längst Bescheid, trotz der Schranken, die die Erziehung überall aufgerichtet hatte. So war es auch mit den Tschilim-Nüssen: Sie, d.h. die Erwachsenen, denken, daß wir nachts nicht schlafen können, und sagen daher absichtlich, das seien nur Nüsse. Aber vielleicht sind sie nur zum Schein Nüsse. Warum sind sie denn so schwarz? Und warum haben sie Hörner?
Häufig beschenkte uns das Meer mit weißen Röhrchen. Papa sagte, das seien die Wurzeln des Schilfrohrs und sie seien wahrscheinlich am Fluß Tschoroch zu Hause, der unweit von Batum ins Meer mündet. Aber auch hier war es wie mit jeder Vereinfachung, man glaubte ihr und glaubte ihr auch wieder nicht. Dem lieben Papa war alles zu klar. Warum waren denn diese »Wurzeln« so weiß und fett wie Würmer? Warum waren das Röhren? Irgend etwas an der Erklärung der Erwachsenen stimmte nicht: Die Seltsamkeit dieser »Wurzeln« war zu offensichtlich. Die weißen Röhrchen sind lebendig und fertig! Man braucht sich nicht in ihr Geheimnis zu drängen und es aufdecken wollen, wenn sie unerkannt bleiben möchten. Sie spielen Wurzel, gut, tun wir so, als ob wir ihnen glaubten, aber wir tun nur so, um sie nicht zu beleidigen und zu erzürnen. Und es bestand für uns kein Zweifel daran, daß sie nicht einfach so ans Ufer gespült worden waren, sondern daß das Meer sie uns, einzig uns zum Geschenk gemacht hatte. Es hielt noch viele andere Freuden für uns bereit – es erfreute uns, weil es wußte, daß wir zu ihm kommen und daß wir die Überraschungen lieben, die »surprises«, ja sogar das Wort surprise. Flaschenscherben, von der Brandung zu freundlichen matten Stückchen geschliffen und von der Sonne gewärmt, dann liebevoll von den Wellen geglättete Stangen und Hölzer, reingewaschen, hell leuchtend und warm, dann glattgeschliffene Spindeln von Maiskolben. Manchmal nach einem Sturm ein kleines Fischchen, Algen oder Muscheln – da wollte die Freude kein Ende nehmen, ich war hoch begeistert, mein Herz schlug mir bis zum Halse.
Manchmal, erinnere ich mich, jedoch sehr selten, fanden wir ein Seepferdchen, und einmal, nach einem sehr starken Sturm, stieß ich auf einen Stachelfisch, den ich viele Jahre in meiner Raritätensammlung aufbewahrte. Wenn ich heute auf meine Kindheit zurückblicke, bemerke ich die außerordentliche Armut der Anschwemmungen am Strand von Batum und die ausnehmende Dürftigkeit unserer Funde; außer ganz annehmbaren Steinen fanden wir nichts, was von Wert und Interesse gewesen wäre. Aber damals haben mich diese Funde unendlich gefreut, obwohl ich ein verwöhntes Kind war, gefreut als Geschenke des großen blauen Meeres, Geschenke für mich persönlich, Zeichen von Aufmerksamkeit, Vertrauen und Gewogenheit.
Vor unseren Augen lebte das Meer sein Leben, änderte stündlich seine Farbe, bedeckte sich mit kleinen schaumgekrönten Wellen, wurde finster oder im Gegenteil erschlaffte, wurde still und träge und ließ am Ufer kaum noch ein Plätschern hören. An einem anderen Ort hätten unsere Funde nichts weiter bedeutet; aber hier am Meeresufer waren sie etwas Besonderes. Grünblau in der Ferne und grüngelb in der Nähe lockten die Meeresfarben meine Seele, und mein ganzes Wesen vernahm den Ruf ihres Zaubers von frühester Kindheit an, sie gaben allem Sinn und Schönheit. Die Gaben des Meeres waren wie ein Geigenbogen, der über meine Seele strich und ein Beben hervorrief, nicht ein Gefühl, sondern gewissermaßen einen Laut, der sich der Brust entrang – Ahnung der tiefen, geheimnisvollen, vertrauten Gründe, Nachricht aus dem chrysoberyllen und aquamarinen Schoß des Seins. Denn diese grünen Tiefen, herzbeklemmend in ihrer elterlichen Vertrautheit, waren die rätselvolle Enträtselung des Höhlendunkels, eines offenbaren Dunkels. Das Meer mit seinen abgeschliffenen, glatten, warmen Hölzchen und den warmen, glatten Steinen, salzig schmeckend und immer kaum merklich nach Jod riechend, wie lieb war es dem Herzen und wie ganz mein. Ich wußte: Diese Stöckchen, diese Steine, diese Algen – wie bekannt waren sie mir, zärtliche Nachricht, zärtliche kleine Geschenke meines gleichsam mütterlichen grünen Halbdunkels. Ich schaute und erinnerte mich, ich roch und erinnerte mich, ich leckte und erinnerte mich, ich erinnerte mich an ein Fernes und ewig Nahes, das Ersehnteste, Wesentlichste, das näher nicht sein konnte.
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