Thilo Koch - Eine Jugend war das Opfer

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In diesem spannenden Buch setzt sich Thilo Koch mit der schwierigen Fragen der Verquickung von Opfer- und Täterschaft, dem gespaltenen Verhältnis mancher Leute zur NS-Ideologie, dem Krieg und dem sich daraus ergebenden Konflikt auseinander. Ein solches Werk war zu der Zeit seiner Erscheinung in 1947 noch sehr gewagt, da die damalige politische Situation noch sehr unsicher war. Trotz allem behandelt dieser Nachkriegsroman die ausgewählten Themen meisterhaft und ist auch für heutige Leser interessant geschrieben.-

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Thilo Koch

Eine Jugend war das Opfer

Saga

Eine Jugend war das Opfer Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1947, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836224

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

— a part of Egmont www.egmont.com

ERSTER TEIL

1.

Brösenheim hatte an warmen Tagen in der Mittagszeit etwas sehr Trauliches. In allen Winkeln schien sich die Behaglichkeit zu sonnen. Auch die Hauptstraße war dann menschenleer, und nur manchmal huschte ein schneller Wagen vorbei, der weither kam und weithin wollte, denn durch Brösenheim führte eine Fernverkehrsstraße. Sonst aber war es ein Städtchen, in dem noch viel verwunschene Romantik lebte und sich mancher Zug erhalten hatte, der ans deutsche Mittelalter erinnerte. Es war ein friedlicher Ort, sauber und fleißig.

In der Hauptstraße, von der Kirche nur, durch einige alte Linden getrennt, hinter denen das Pfarrhaus lag, bezeichnete ein Schild in ehrwürdiger Fraktur einen hübschen kleinen Laden als die „Buchhandlung Wilhelm Frey“. Das Häuschen war alt, aber ordentlich mit hellgrauem Kalk verputzt und mit freundlichen grünen Läden an den Fenstern Ein großes und modernes Schaufenster wies den Besitzer als fortschrittlichen Mann aus, und — was mehr besagen wollte — die Auslagen in diesem Fenster waren von einer liebevollen Hand geschmackvoll angeordnet. Wilhelm Frey, der Inhaber, war ein begeisterter Diener des Buches, hierin aller Konkurrenz in Brösenheim überlegen, während er ihr in der geldbringenden Geschäftstüchtigkeit freilich nachstand.

Wenn Frey ein Buch verkaufte, das etwas wert war, so hatte der Käufer den Eindruck; er mache es ihm zum Geschenk, und wirklich kostete es den Buchhändler jedesmal Ueberwindung, wenn er einen seiner Lieblinge aus dem Laden gab. Er genoß deshalb auch ein hohes Ansehen unter denjenigen Brösenheimern, die zum Buch ein mehr als oberflächliches Verhältnis hatten. Nachdem er den Laden von seinem Vater übernommen hatte, gab er den Handel mit Papier und Schreibwaren auf, weil er es als seine Lebensaufgabe betrachtete, eine Buchhandlung mit eigener Note einzurichten. Obwohl dieser Versuch in Brösenheim ein Wagnis war, blieb das Geschäft schuldenfrei, und der Umsatz stieg langsam. Es schien, als machten die Brösenheimer allmählich Fortschritte in der Veredelung ihres literarischen Geschmacks — fast unmerklich erzogen durch die kleine Buchhandlung in der Hauptstraße.

Noch einen nicht bibliophilen Anziehungspunkt gab es dort. Dieser wirkte namentlich auf die älteren Schüler und jungen Lehrer und lebte wie eine bunte Blume unter den vielen gedankenschweren Bänden. Es war Christa, Freys Tochter, die ihm seit ihrem Abgang aus der Schule im Laden half. Was sie dem Vater an Sachkenntnis nachstand, das ersetzte sie durch den Scharm ihrer Bedienung, und je nach Alter und Eigenart wandten sich die Kunden lieber an sie oder an ihn.

Eben jetzt saß Christa hinter dem alten dunkelbraunen Holzpult und schrieb Rechnungen aus, denn einige der nicht ganz zuverlässigen Kunden mußten erinnert werden.

Es war ganz still in dem kleinen Raum. Ein Abglanz der Mittagssonne lag ausgebreitet über den vielen Buchrücken an den Wänden und auch über dem Mädchen, das dort saß und schrieb. Manchmal hob Christa den Kopf und hielt ein mit schreiben, um zu dem Nebenfenster hinauszuschauen, von dem man auf den Kirchgarten mit seinen schönen, alten Linden sehen konnte. Das Rechnungenschreiben gefiel ihr nicht sonderlich. Ein Kunde war nicht zu erwarten, weil Brösenheim jetzt Mittagsruhe hielt. So lehnte sie sich in dem Kontorstühlchen zurück und träumte vor sich hin. Die Sonne flutete durch das Glas in der Ladentür und durch den oberen Teil des Schaufensters, zeichnete mit dicken, warmen Strahlenbündeln Muster auf den Linoleumfußboden und umspielte auch das Mädchen selbst aufs lieblichste. Nur manchmal unterbrach ein vorbeisausender Wagen die Mittagsruhe. Mit dem eigentümlich dunklen Singen schneller Gummireifen auf Asphalt näherte sich wieder ein Auto — und war auch schon vorbei. Christa sah nur ein Aufblinken von schwarzem Lack, blitzenden Chromteilen und zwei weiße Autokappen. Ihre Brust hob sich zu einem kleinen Seufzer, und sie trat an die Ladentür in Erwartung, daß bald wieder so ein schöner Wagen vorbeiführe. — Wer doch auch so in die herrlich sonnige Welt hinausfahren dürfte! In so einem blitzenden Kabriolett! Und am Steuer müßte einer sitzen, den man liebhaben könnte . . .

Langsam wendete sie sich um und schritt zum Pult zurück. Sie hatte einen besonders schönen Gang und trug deshalb gern hohe Absätze; ihre Bewegungen waren weich. Die Kopfwendung, mit der sie jetzt eine blonde Locke zurückwarf, zeigte, daß sie sich ihrer Reize bewußt war. Ihr kurzes Faltenröckchen strich nicht sehr freundschaftlich an den Büchern hin. Gewiß, Brösenheim war ein liebes Nest, und sie hing daran. Sie hing auch an Vater und Mutter und besonders an dem Bruder. Aber der Vater sah nur seine Bücher, die Mutter war lieb und gut, ahnte aber nichts von ihrer unbändigen Sehnsucht nach dem Leben, weil sie von Natur aus still und bescheiden war und sich auch mehr um Thomas, den einzigen Sohn, kümmerte. Dieser aber lebte eingesponnen in die Musik, hatte Schulkameraden um sich, und im stillen erfüllte ihn ganz und gar eine Neigung für Gisela, ihre Freundin aus dem Pfarrhause. Mit Gisela Machenberg verstand sie sich gut; doch auch sie schien nicht dieses ganz starke, übermächtige Drängen nach etwas Ungewöhnlichem, nach dem brausenden, wilden, schönen Leben zu kennen, dieses heiße Wollen, das manchmal so betäubend aufwallte. Gab es überhaupt jemanden, der so etwas in ihr ahnte?

Nicht immer indessen war Brösenheim so verschlafen wie an warmen Sommertagen. Zwischen sechs und sieben abends glich die Hauptstraße ganz im Gegenteil einem weltstädtischen Korso. Das war die Zeit des „Bummels“ — Höhepunkt des Tages für Brösenheims Jugend. Es gehörte zu Christas größten Schmerzen, daß sie nur selten „auf den Bummel gehen“ konnte, denn gerade dann wurde sie im Laden gebraucht. Es war ja die allgemeine Einkaufszeit kurz vor dem Abendessen, und viele der Vorbeigehenden wurden durch eine neue Auslage verlockt, andere erledigten ihre laufenden Anliegen in der Buchhandlung. Die ständigen Kunden kamen freilich in den stilleren Stunden, weil sie mit dem alten Frey allein sprechen wollten oder — die anderen — mit der schönen Christa. Seit Thomas, der Bruder, nun Primaner war, duldete es der Vater nicht mehr, daß er Christa um diese Zeit einmal vertrat, wozu er früher immer gern bereit gewesen war. „Als Primaner gehört er auf den Bummel“, meinteVater Frey schmunzelnd. „Wenn er nicht zu arbeiten hat“, setzte er vorsichtshalber hinzu.

Thomas selbst ging jetzt auch wirklich gern auf den „Bummel“, während er sich noch bis zu diesem Frühling wenig daraus gemacht hatte. Er brauchte nicht lange in sich zu forschen, um die Ursache zu finden. Dabei mußte er dann meistens ganz heimlich lächeln, weil ein seltsames Glücksgefühl in ihm aufkam — ein wenig bang und doch so erwartungsfroh.

Heute herrschte wieder reges Treiben. Die Hitze des Tages war einer linden Abendluft gewichen, und jeder erging sich gern darin. Das Bild war bunt und bewegt. Die Jungen trugen meistens kurze Hosen und leichte Hemden, die Mädchen helle Waschkleider oder farbige Blusen mit Röcken, die — der Mode folgend — jedes Jahr kürzer wurden. Eingehenkelt, zu zweit oder zu dritt, oft auch in breiter Kette, die immer wieder vor einem hupenden Auto oder einem Radfahrer zerstob, um sich lachend erneut zu verbinden, schlenderten sie die Hauptstraße auf und ab. Die Kirche am einen Ende und die Apotheke jenseits des Marktes am anderen waren nach uralter Ueberlieferung die Grenzen des Bummels. Hier traf und fand sich das ganze Jahr hindurch, mit Ausnahme der Ferien, allabendlich zwischen sechs und sieben, was sich treffen und finden wollte. „Wir müssen auf den Bummel!“ Das war auch für die strengste Mutter ein Entschuldigungsgrund, denn „der Bummel“ war für sie selbst eine Jugenderinnerung, die sie um keinen Preis hätte missen mögen. Da wurden Blicke getauscht, oder man fühlte sich auch nur angesehen und traute sich nicht aufzuschauen; da erzählte man sich die neuesten Ereignisse und Erfahrungen, Liebschaften und Zerwürfnisse, da wurden die Lehrer durchgenommen, und unter den älteren Schülern kam es auch wohl zu einer Diskussion.

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