Thilo Koch
Zwischentöne - Ein Skizzenbuch
Saga
Zwischentöne - Ein Skizzenbuch Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1963, 2019 Thilo Koch und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711836125
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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ORTE
Dieser spanische Frühling zwingt uns ins Haus. Das kleine Tropengewitter nachts läßt die Quecksilbersäule erstarren. Morgens küßt der Tramontana die Wipfel der noch eingebundenen Palmen, so daß du schnell dir die Hände an dem Kännchen mit Café au lait wärmst. Sonst aber ist alles wie im Urlaub: das Bett zu kurz, die Decke zu dünn, das Wasser nie warm, der Strom schwankend, elektrische Rasur also ungleich.
Genieße den südlichen Frühling, Mallorca, die goldene Insel, flugs fliegt man dich hin, du bist da, du erstarrst. In den Wogen, schneidend wie Nordsee. In den Klippen, traurigkühl wie Solveigs Lied. Auf der Terrasse, kahl wie ein Berliner Hinterhof. Bunt und höhnisch die Interpunktion der Liegestühle: Warte nur, balde . . .
Aber im Hause, da ist ja gut sein. Voll bis zum Rand die lauschige Bar, eingerichtet mit Fleiß und Genie vom französischen Wirt für den Flirt, für Espresso und Knobeln, »Time« und »Life« am Kamin, Pfeife zur Nacht und dazu »Veterano«, billigen, guten, spanischen Cognac: bueno.
Freilich, die Kleinen! Die Kinderchen! Wo, bitte, sollen sie spielen und tanzen, singen und springen, die Süßen? Draußen, der südliche Frühling, tut ihren Hälschen, den zarten, nicht gut. Also herein mit ihnen, laß sie hier schreien. Also zu zweien, zu dreien in die Klubsessel.
Und geduldig steht der schottische Vater am Fenster, gewärtig des heimischen Nebels, des Frühlingsschneefalls, des Geists von Hamlets Vater, allem schlechthin. Jedenfalls ist er gelassen, bedient den Kamin, gründlich: und wenn die ganze Pineta verbrennt – warm wird es doch nicht.
Sehr lebendig dagegen die drei Pariser Familien. Die eine Madame hat den Chic der Concièrge – o la la. Aber Monsieur grübelt so gründlich über der Karte zum Menü, daß er beim Skat, den die drei Herren von der Seine unentwegt spielen – veritablen deutschen »Skat« –, daß er verliert.
Doch der Gattin Brillanten sind echt. Und so fait es rien, daß die drei putzigen Kleinen eben den zweiten Schemel zerkleinern und ihn verheizen. Unter leichtem schottischem Schütteln des Kopfes vom Fenster her, das freilich auf Bewegungen der buschigen Augenbrauen beschränkt bleibt: take it easy, boy.
Anders der deutsche Professor. Er liest, buchstäblich, chinesische Bücher im Urtext – mit einem dicken Bleistift und von rückwärts, also ganz echt chinesisch. Scheu und Ehrfurcht aller Nationen umgeben den Weisen – etwa im Umkreis von ein Meter fünfzig. Selbst das englische Liebespaar aus Kalkutta (ob es da warm ist?) flüstert nur in seinem Rücken, an der Bar, die sehr hübsch aus einer längs abgeschnittenen Bootshälfte besteht. Beim Flüstern muß es sich nahe und immer näher kommen, denn leider – die Kleinen, die europäisch vereinten, spielen »Mikado« jetzt, und das ergibt Streit – Pearl Harbour, Harakiri.
Nur die Stimme des Mannes in kurzen Hosen dringt da noch durch. Wem er eigentlich in schwäbischen Kernlauten von Charkow und »lagen vor Madagaskar«, El Alamein und dem Kuban-Brückenkopf erzählt, ist unerfindlich, da eine große Mutti, dick hollandaise, die deutsche Gruppe verdeckt. Mutti lächelt auf schottenrockrotkarierte Knaben und eigene kleine Meisjes hernieder, gutmütig-lieb, mit ewig schiefgeneigter Schulter und glühenden Wangen.
Sonst gibt es noch zwei Attraktionen: die zweite Pariserin, Gattin im schwarzen Pullover, dazu ihr Anmutig-Parlierendes, schon mit acht Lenzen die ganze erotische Kultur der Nation mit Kußhändchen verschenkend. Und das rote Fräulein aus Vancouver, Kanada. Warum die hier friert und allein, weiß nicht mal Generalissimo Franco, der jede Mallorca-Briefmarke ziert.
Sie blättert, das Engelsgeschöpf, in »Vogue«, Spalte »Reisetips«, »See Europe Now«, und hat wirklich sehr, sehr schöne Fesseln. Auch sonst – alles, was recht ist. Zweiundeinhalb Aphroditen, schaumgeboren. Aber der knappe, schmiegende Badeanzug ruht tief im Koffer, die Brandung brandet allein.
Dieser spanische Frühling – ach ja. Aber balde: »Er kam, er kam ja immer doch . . .« Oder heißt es »noch«? Kein Büchmann – nix Literatur. Du senkst beschämt den ungebildeten Kopf. Aber: patienca – morgen, mañana ist auch ein Tag, Frühlingstag. Mache dich nützlich, Germane. Ich greife entschlossen zur Kaminzange, die Pineta zu schüren. Autsch, das war heiß. Scotchman vom Fenster fragt sachte besorgt: »Are you allright?« Ich grimmassierend, in diesem gemeinsamen europäischen Markt babylonisch verwirrt: »Merci, it’s niente!« Dolce far – aber fahr niente zu früh, in einem Früh-ling, o Reisender aus Alemania.
Die Welt am sechsten Tage
Artischocken und Palmen wachsen wie Unkraut. Grillen, so lang und stark wie ein Männerdaumen, springen dir über den Kopf und zehn Meter weit in die Macchia. Die duftet süß und intensiv, übertroffen nur noch gegen den Abend von der grüngrünen langen Büschelnadel der Schirmpinie am Hang und dem schotenartigen Blatt des Eukalyptus, der hier als Alleebaum dient und Kühlung raschelt. Schwarzer, roter, glitzernd-grauer Granit tritt überall aus den bunten Mosen, den Farnenfeldern, den Disteln, deren gelbe Blüte mannshoch aufschießt. Das uralte Gestein ist vom Meerwind, der Salzluft und den Güssen der Regenzeit modelliert; nun sieht es aus wie Elefantenhaut, und oft beugen sich die Höhenzüge wirklich auch in ihren Konturen wie die Rücken urweltlicher Elefantenherden unter das siedende Goldrot der untergehenden Sonne.
Nach ewigen, ehernen Gesetzen, so spürst du, seit dich die »Tirenia« in Olbia anlandete, steht hier ein unberührtes Land gegen die nagende, kühlende See ringsum, gegen den segnenden, sengenden Himmel darüber. Das Buch der Geschichte? Hier blieb es geschlossen, und die Zeit, die allmächtige, hier verwandelt sie in zehntausend Sommern nur wenig. Asphodelen und Oleander wurden von keiner Hand gebrochen oder gezogen; alle Jahre schießt die Agave aus dem Schoß ihrer dicken, blaugrünen Blätter den Blütenbaum viele Meter in den Wind; Opuntie, der Feigenkaktus, wuchert unendlich; die Herbste duften nach Orangen, Zitronen, und in den Tälern kocht die Traube.
Also doch der Mensch auch hier? Denn die Reben halten sauber am Stock; Schafe in daunenweicher Wolle grasen zwischen mörtellosen Steinmauern hinauf; das dunkel-sanfte Auge brauner Rinder glänzt blicklos über mahlendem Maul aus dem Schatten, und: ein dichtgeschlungenes Netz staubweißer und asphaltener Straßen überzieht die große Insel im Tyrrhenischen Meer. Menschen in den klassischen Berufen – Hirten, Pflüger, Jäger, Viehzüchter. Das einfache Leben mit Schafkäse, Wein und Brot. Menschen ohne Geschichte. Blaues Salzwasser, das den Granit zersägt; ein offener Himmel ohne Gott und voller Götter; in bergenden Muscheln aus Lava oder Basalt fruchtbares Grün, darin der Mensch.
Das denkende Wesen, dessen Spuren sich in »vorzeitlichem« Dunkel verlieren, das so vieles ersinnt, aber nicht seinen Anfang, nicht das Ende der Zeit. »Nuraghen« hat er gebaut auf diesem Stück Erde, als erstes Zeugnis der Macht, die ihn vor allem beherrscht: der Angst. Nuraghen, Türme in kunstvoll simpler Architektur, urtümlich, düster, aus Steinen, die zwei, drei Männer noch gerade bewegen, Fluchtburgen, Gräber, man rätselt; nicht groß, nicht prächtig, aber selbst in drei-, viertausend Jahren noch nicht zerfallen. Du legst die Hand an diese ersten Mauern, die nicht Naturkraft baute, der Stein ist sonnenwarm, wie all die Sommer hindurch, da hier Phönizier, Karthager, Römer, Vandalen, Ostgoten, Sarazenen, Spanier, Genuesen, Pisaner, Habsburger vorbeizogen, eroberten, erpreßten, vergingen – bis Garibaldi die Einigung Italiens brachte.
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