Vor kurzem las ich die Abendmesse in der Kirche des Roten Kreuzes. Die chemischen Kohlen waren ausgegangen, ich mußte das Weihrauchfaß mit gewöhnlichen Herdkohlen entzünden, die beim Schwenken manchmal Funken versprühten. Ein Funken aus dem Weihrauchfaß flog einsam durch den Altarraum. Und sofort erinnerte ich mich, wie in meiner Kindheit als ein solcher Funken »mein Schlaf davongeflogen« war. Jener Kindheits-Funken wiederum weckte die Erinnerung an den feurigen Funkenstrom vom Rad des Messerschleifers, der mir eine andere Welt offenbart hatte, eine Welt voll geheimen Grauens, die den Verstand lockte und erregte. Funken sprechen zu Funken und bringen sich Kunde voneinander. Mein ganzes Leben ist durchzogen von einem unsichtbaren Funkenfaden, einem Strom goldenen Feuerregens, der meinen Verstand befruchtet wie Jupiter Danae: Unda, fluens palmis Danaen eludere posset [Die den Händen entrinnende Flut, kann sie Danaë verfehlen; Ovid »Metamorphosen« Buch 11].
1919.1.VI.
Gifte [russisch: jady]. Aus der tiefsten Tiefe der Kindheit steigt das Wort »jad« empor, das mir immer besonders verlockend erschien, schon als ich seine Bedeutung noch nicht kannte. Allein der Klang »jad«, dann seine Schreibung
яд,
wie überhaupt der Buchstabe я, vor allem, wenn er
ja
gesprochen wurde, das alles erschien mir immer irgendwie schmeichelnd, süß, umgarnend, zerstörend, aber auf geheimnisvolle Weise zerstörend, ohne erkennbare physische Ursache, gleichsam magisch. Ja, ich empfand Gift als Magie, eine natürliche Magie vielleicht in ihrer Bestimmtheit, Unausweichlichkeit, in der Promptheit und Unabwendbarkeit ihrer Wirkung besonders geheimnisvoll und deshalb besonders einschmeichelnd, besonders verführerisch und ein besonders süßes Prickeln verheißend.
Dieser Eindruck, den ich bei dem Wort »jad« hatte, ist für mich mit dem Wort »Jankel« verbunden. Vielleicht war in Gesprächen, denen ich zufällig gelauscht hatte, der Name Jankel gefallen, vielleicht in einem furchterregenden Sinne, ich weiß es nicht, aber dieses Jankel erschien mir eventuell durch das ja und das süße kel drohend, auf irgendeine Weise giftig, einschmeichelnd und tödlich. Ich glaube, daß das ein Echo war auf ein Gespräch über jüdische Schmuggler, die bei uns auf dem Hof wohnten und die plötzlich, all ihr geheimnisvolles Hab und Gut zurücklassend, auf geheimnisvolle Weise verschwanden.
Einmal stand ich mit Tante Julia auf dem Balkon, der rings um unser Haus in Batum herumlief. Es war das Haus der Aiwasows. Ich sehe uns noch wie heute auf dem Balkon zum Innenhof stehen. Meine Tante pflanzte wohl Blumen – wir waren beide große Blumenliebhaber – längs des Balkongitters in Kästen, die mein Vater auf ihren Wunsch bestellt hatte. Ich hatte nichts zu tun, und aus lauter Untätigkeit steckte ich ein Stückchen grünes Papier, etwas wie Zigaretten- oder Seidenpapier, in den Mund, kaute es und knetete, fasziniert von der leuchtend grünen Farbe, kleine Kügelchen daraus. Diese grüne Farbe, erinnernd an das Grün des Smaragds und das Grün des Meerwassers am Hafen, dessen fettiger Glanz durch die Spalte des Laufstegs schimmerte, zog mich durch ihr Leuchten und ihre, wie mir schien, geheime Feindseligkeit an. Als die Tante sah, was ich machte, fuhr sie mich erschrocken an: »Was machst du da? Wirf sofort das Papier weg«, ich warf es schnell weg, »und nimm nie wieder grünes Papier in den Mund. Merk dir, es ist mit grüner Farbe gefärbt, die Farbe heißt ›Jankel‹ – die Farbe ›Jankel‹ ist sehr giftig, und man kann daran sterben.«
»Jankel« – ich erbebte. Das also war »Jankel«, das Wort, vor dem ich zitterte. Jedenfalls hatte ich es so verstanden. Jetzt glaube ich eher, daß meine Tante nicht »Jankel« sagte, sondern »Myschjak« [Arsen], denn Grün ist die Farbe des Arsens, ich aber hörte statt des mir unbekannten Wortes Myschjak, das auch das geheimnisvolle ьяк – ja enthielt, das mir bekanntere Jankel, das schon den Schein des Giftigen angenommen hatte. Seither kann ich den Anblick dieses dünnen durchscheinenden grünen Papiers nicht vertragen, und wenn es gar jemandem an die Lippen kommt, habe ich das Gefühl, er vergiftet sich unmittelbar. Damit hängt es vermutlich auch zusammen, daß mir Smaragde seltsam anziehend und verlockend, dabei aber giftig und insgeheim tödlich vorkommen – ganz magisch. Und ich habe das Gefühl, hier besteht wiederum eine Korrespondenz mit dem Grün der Weintrauben, die mir einmal verwehrt wurden
2. Hafen und Boulevard (Batum)
Das Meer war es, das mich in der Kindheit mit seinen bald ins Bläuliche, bald ins Gelbliche gehenden Grüntönen nährte. Kindheit und Knabenjahre verbrachte ich in ständiger unersättlicher und wohl nie zu sättigender Betrachtung des Meeres. Es verging kaum ein Tag, an dem wir Kinder, d.h. ich und Ljusja, nicht zwei-, manchmal sogar dreimal am Meer waren. Nie war das Meer langweilig. Nie huschte sein Eindruck nur so über die Seele hin – immer wurde das Meer mit dem ganzen Wesen eingesogen.
Morgens nach dem Tee brachen wir auf, wir nahmen zum Frühstück Brote mit Kotelett und Käse mit, manchmal noch frische oder getrocknete Früchte, Kastanien, Nüsse oder Montpensier [Fruchtbonbons], gelb und grün, auch das irgendwie korrespondierend mit jenen erregenden Farben. Das Kindermädchen oder Tante Julia brachte uns in wenigen Minuten zum Boulevard. Damals, vor fünfunddreißig Jahren, kam das Meer noch bis an die erste Allee des Boulevards heran; erst später hat es sich dann von den Anpflanzungen der Lebensbäume und Zypressen so weit entfernt, unabhängig von den auf den Spuren des zurückweichenden Meeres sich fast täglich vermehrenden Bäumen. Wir spielten im Sand der Allee oder gingen über den knirschenden Kies zum Wasser hinunter. Die Kiesel waren ganz glatt, wie künstlich geschliffen. Ich wußte von den Erwachsenen, daß sie in Wahrheit von der Meeresbrandung rundgeschliffen worden waren, glaubte es aber nur halb: Waren diese Steine nicht als Muscheln oder Korallen im Meer gewachsen? Waren sie nicht von Lebewesen hervorgebracht?
Wir wühlten in dem feinen Kies direkt am Meer und suchten durchscheinende Steinchen – blau und violett opalisierende Chalcedone, die im Innern geheimnisvoll flimmerten, als seien sie ganz von Licht erfüllt, Bandachate, feinschichtige orangene und rote Karneole mit weißen Einlagerungen, seltener Amethyste, gelbe und grüne Quarzite und manchmal durchsichtige Topase, so wie das Montpensier, das wir mitgebracht hatten, und viele andere – kaum ein Tag, an dem wir nicht mit Beute beladen nach Hause kamen. Diese Steine ähnelten künstlerisch nachlässig gearbeiteten Perlen, die aus einem unterseeischen Geschmeide herausgefallen waren; in meiner Vorstellung glichen sie den venezianischen Perlen, die mein Vater uns in einem kleinen Laden am Hafen gekauft hatte, und sie verwandelten sich dauernd in sie. Die geheimnisvollen Lagen der Karneole und Achate, ihre feine Schichtstruktur regte das Denken an: Ich sah hier einen verborgenen Sinn der Natur, und es schien, als müsse er sich insgeheim jeden Augenblick offenbaren und sich mir eröffnen. Manchmal gingen wir mit Papa ans Meer. Papa meinte zur Erklärung unserer Funde, diese Schichten seien durch jahrhundertelange Ablagerung in unterirdischen Spalten und Höhlen entstanden. Aber ich sah in diesen Schichten die abgelagerten Jahrhunderte, die versteinerte Zeit. Nie habe ich die Zeit als etwas unwiderruflich Vergangenes ansehen können; solange ich denken kann, lebt in mir die Überzeugung, daß sie irgendwo hingeht, vielleicht in diese Spalten und Höhlen einsickert und sich dort versteckt und einschläft; aber einmal wird man auf irgendeine Weise zu ihr vordringen, dann wird sie wieder zum Leben erwachen. Die Vergangenheit ist nicht vergangen, dieses Gefühl hatte ich immer, nichts war klarer als das, in der frühen Kindheit sogar noch klarer als später. Ich empfand die pralle Wirklichkeit des Vergangenen und wuchs mit dem Gefühl auf, daß ich tatsächlich das vor vielen Jahrhunderten Gewesene berühre und mit der Seele dort eindringe. Was mich in der Geschichte wirklich interessierte, Ägypten, Griechenland, war von mir nicht durch die Zeit getrennt, sondern lediglich durch eine Art Wand, aber durch diese Wand hindurch spürte ich mit meinem ganzen Wesen, daß das ebenso jetzt und hier ist. Die Steine mit ihren Schichten kamen mir vor wie der unmittelbare Beweis der ewigen Wirklichkeit des Vergangenen: Da schlafen sie übereinander, die Schichten der Zeit, eng aneinandergepreßt in stummer Ruhe; aber ich brauche mich nur anzustrengen, und sie werden mit mir zu sprechen beginnen, davon bin ich überzeugt, sie werden im Rhythmus der Zeit zu fließen beginnen und aufrauschen – Brandung der Jahrhunderte. Später ist es wohl gerade dieses zärtliche Kindheitsgefühl für das Geschichtete gewesen, das mich für die Geologie schwärmen ließ – eben für die Schichtenbildungen: Beim Anblick der klaren geologischen Schichten überlief mich ein Schauer, mir wurde kalt vor Begeisterung. Das war genau wie ein Buch, und ist nicht ein Buch abgelagerte Zeit?
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