Erschien es der Mutter sinnvoll, trat sie mit dem Kind auf. Und Auftritte waren es. Denn mit Füttern, Wickeln, am Bett zum Einschlafen Lieder singen oder Geschichten vorlesen, hatte Angelika von Weerendonk nichts zu schaffen. Ihre Tochter war für sie lediglich ein Marketingobjekt.
Und der Vater? Albrecht von Weerendonk glänzte die meiste Zeit durch Abwesenheit. Seine Geschäfte trieben ihn mal hierhin, mal dorthin. Wenn er zu Hause war, verwöhnte er seine Tochter über die Maßen, aber zu Hause war er eben äußerst selten.
Also wuchs das Kind Franziska auf mit der zurückhaltenden Liebe stets wechselnder Kinderfrauen und der seltenen ihres Vaters als das Klischee des armen, reichen Mädchens, diesseits und jenseits der Schwelle zum Unglücklichsein.
Die Familie lebte in einer schloßartigen Villa mit riesigem Grundstück im Münsterland. Obwohl ganz in der Nähe ihres Elternhauses, spielten die Eltern Angelika von Weerendonks in ihrem Leben eine höchst untergeordnete Rolle. Nachdem sie eine gewisse gesellschaftliche Stellung errungen hatte, wollte sie von den einfachen Leuten, die ihre Eltern waren, kaum mehr etwas wissen. Als Schauspielerin hatte sie vor allem zwei Dinge im Auge: Ansehen und Reichtum. Alles andere interessierte sie nicht. Sie suchte die Nähe von denen, die diesen beiden Zielen förderlich sein konnten und mied den Kontakt zu allen anderen. So auch ihren Eltern.
Das Kind, das sie irrtümlicherweise geboren hatte, war mehr das Aushängeschild einer intakten Familie, soweit es der Karriere nützlich war. Ansonsten wurde es der Obhut anderer übergeben, die sich um Versorgung und Aufzucht dieses Nachwuchses kümmern sollten. Folgerichtig kam das Mädchen in ein Internat, sobald es das nötige Alter erreicht hatte. Franziska war eine reine Nebensache. Das Verhältnis der Drei zueinander war entsprechend. Tiefere Gefühle, wie sie normalerweise zwischen Eltern und ihren Kindern üblich sind, entwickelten sich nicht.
Mit vierzehn Jahren lernte Franziska den vier Jahre älteren Martin Schöller kennen. Sie verliebte sich in ihn, es entwickelte sich eine innige, intime Beziehung zwischen den beiden, die der Mutter mißfiel, sobald sie davon erfuhr. Martin Schöller war durchaus nicht der Typ, den sich Angelika von Weerendonk als den Partner ihrer Tochter vorstellte. Obwohl selbst aus sehr einfachen Verhältnissen stammend, betrachtete sie das Verhältnis der beiden jungen Leute als eine Mesalliance, die es unter allen Umständen zu verhindern galt, zumal sie es mißbilligte, daß sich ihre Tochter bereits in so jungen Jahren einem anderen anschloß.
So unternahm sie alles in ihrer Macht Stehende, um das Verhältnis der Beiden zu durchkreuzen, bis hin zu einer Anklage gegen den jungen Mann, ihre Tochter vergewaltigt zu haben. Ihre Bemühungen blieben letztlich erfolglos, denn das Mädchen hatte es verstanden, nicht zuletzt auch zurückgehend auf eine versuchte Intrige seiner Mutter, in dem Schweizer Finanzmagnaten André Schindler einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen, der Franziska nach Kräften unterstützte und gegen den die Mutter mit ihren Ränkespielen nicht ankam.
Tapfer durchkreuzten die beiden jungen Liebenden alle Versuche der eifersüchtigen Mutter des Mädchens, ihre Beziehung zu hintertreiben. Alle, bis auf den letzten Schachzug, den Angelika von Weerendonk, die sich mittlerweile von Albrecht von Weerendonk getrennt und in dem Rechtsanwalt Doktor Harry Kern einen neuen Partner gefunden hatte, sich mit diesem ausgedacht hatte. Darüber verzweifelte das junge Mädchen so sehr, daß es keinen anderen Ausweg mehr sah, als im Alter von sechzehn Jahren den Freitod zu wählen.
Das alles erläuterte Kommissar Markus Obermeyer seinem Kollegen und Vorgesetzten, Hauptkommissar Georg Huber und schloß:
„So sieht’s aus. Wenn Du so willst, hat also die Mutter ihre Tochter in den Selbstmord getrieben, und der Junge ist die tragische Figur dabei. Ein starkes Motiv hätte er also schon, sich an der Mutter zu rächen, aber so wie’s aussieht, hat er’s nicht getan. Und so wie die Bremer Kollegen ihn schildern, wäre er auch gar nicht der Typ dazu.“
„Und was ist mit diesem väterlichen Freund, diesem Schweizer?“
„Du meinst André Schindler?“ Obermeyer atmete tief durch. „Der hätte die Möglichkeiten natürlich, gewaltige Möglichkeiten. Aber das läßt sich nicht nachweisen. Er könnte eine solche “Bestrafung“ der Mutter des Mädchens durchaus eingefädelt haben. Die Mittel hätte er allemal. Aber seine Spur nachzuverfolgen ist nahezu unmöglich. Kaum jemand weiß, wo er sich wann gerade aufhält. Er reist mit gemieteten Flugzeugen, ist ständig unterwegs, und sein jeweiliger Aufenthaltsort ist schwer festzustellen. Natürlich sollten wir versuchen, rauszukriegen, wo er an jenem Abend gerade war, als Angelika von Weerendonk überfallen wurde, aber ich glaube, das bringt uns kaum weiter. Erstens wird sich so ein Typ kaum selbst die Hände schmutzig machen, und zweitens glaube ich nicht, daß irgendjemand in seiner Umgebung den Mund aufmachen wird. Aber versuchen sollten wir’s auf jeden Fall.“
Kommissar Obermeyer sollte mit seiner Vermutung recht behalten. So sehr sich seine Leute auch bemühten, alle Nachforschungen bezüglich André Schindlers verliefen im Sande. Die Mauer des Schweigens, die diesen mächtigen Schweizer Finanzmagnaten umgab, erwies sich als zu stabil und zu hoch. Es war äußerst unbefriedigend, aber schließlich mußten sie die ganze Sache erfolglos abbrechen. André Schindler, dem die Bemühungen der Münchener Kriminalpolizei natürlich nicht verborgen blieben und die er mit Interesse verfolgte, blieb unbehelligt.
***
Inzwischen war Angelika von Weerendonk aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der Bruch ihrer Unterschenkelknochen, ebenso wie die Verletzungen, die sie durch die Mißhandlungen erlitten hatte, heilten zufriedenstellend, obwohl sie auch nach dem Abheilen der Wunden dauerhaft entstellt blieb. Wie es bereits der Arzt in der Notfallambulanz bei ihrer Aufnahme ins Krankenhaus angedeutete hatte, war ihr Gesicht und auch die Narben an ihrem Körper nicht mehr zu reparieren. Obwohl die Schauspielerin alles daransetzte, es zu versuchen. Ihre Bemühungen scheiterten samt und sonders.
Man hatte ihre Nase richten können. Gegen die Narben, die sich über beide Wangen und über die Stirn hinzogen waren die Ärzte jedoch machtlos. Die Wunden hatten sich durch die Zuckerkristalle sofort entzündet, so daß sie schlecht abheilten und wulstige Narben bildeten. Diese mannigfachen Wülste beseitigen zu wollen, war einfach ein sinnloses Unterfangen. Die übrige Haut ihres Körpers und ihrer Gliedmaßen sah nicht anders aus, nur daß es ihr hier möglich war, die Verunstaltungen durch Kleidung unsichtbar zu halten. Im Gesicht gelang das hingegen nur höchst unvollkommen, trotz der Base-Cap die sie, tief in die Stirn gezogen, zu tragen pflegte und der großen, dunklen Brille. Die vernarbten Wangen gaben ihr das Aussehen einer alten Frau. Oft mußte sie den Spott der Kinder ertragen, die sich hinter ihrem Rücken mehr oder weniger verhalten zuflüsterten: „Ey, guck mal, hast Du die geseh’n? Die sieht ja aus wie ‘ne Hexe.“
Von der einst so berühmten und gefeierten Schauspielerin Angelika von Weerendonk war nichts mehr übrig geblieben. Das Talent zum Schauspielern hatte sie freilich noch, aber niemand konnte und wollte es nutzen. Ihr Agent gab seinen Auftrag zurück, sie wurde von sämtlichen Besetzungslisten gestrichen. Die Zäsur in ihrem Leben war allumfassend. Sie mußte sich neu orientieren.
Viele Möglichkeiten dazu eröffneten sich ihr nicht. Tatsächlich blieb ihr als einzige, sich mit dem Geld, über das sie nun reichlich verfügte, ein angenehmes Leben zu machen. Soweit das unter den gegebenen Umständen möglich war.
In den Kreisen, in denen sie einst zu verkehren pflegte, war sie nunmehr eine Unperson. Den Eintritt zu gesellschaftlichen Ereignissen mußte sie sich erkaufen. Das gelang ihr gelegentlich, aber bei weitem weniger oft, als sie es sich erhofft hätte. Wenn es ihr dann gelungen war, sich Zutritt zu dem einen oder anderen Fest zu verschaffen, auf dem man sie in früheren Zeiten begeistert begrüßt hätte, wurde sie behandelt wie eine Aussätzige. Nie mehr war sie der strahlende Mittelpunkt eines solchen Festes, auf den wilden Parties auf den millionenteuren Yachten der Schönen, Reichen und Berühmten in Saint Tropez oder Monte Carlo, den Empfängen der Filmfestspielen in Cannes, Venedig oder Berlin, den Preisverleihungen in Rom oder in Los Angeles. Die einzige Bemerkung, die sie über sich und ihr Aussehen zu hören bekam, lautete:
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