„Heute ist ein wichtiger Tag“ sagte er.
„Ich habe mit deinem Großvater und deiner Mutter in deiner Abwesenheit eine Sache beraten, die von deiner Entscheidung abhängig sein wird, ob du in die Stadt gehen willst. Hast du schon eine Wahl getroffen?“
Mehr Ansprache hatte der Junge von seinem wortkargen Vater nicht erwartet, seine Antwort hatte er sich lange bereit gelegt.
„Ja Vater“ erwiderte Peter „in der Stadt will ich nicht leben. Ich bleibe hier, auch wenn ich nicht mehr viel in unserer Schule lernen kann, aber es gibt ja auch Bücher. Ich will Bauer werden, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Aber ein Bauer, der auch mit Maschinen umgehen kann.“
Der Vater schaute ihn an und Peter meinte, dass sein Blick anders wäre als sonst, sanfter und offener.
„Gut, die Möglichkeit sollst du haben. Backmann, dein Lehrer, ist bereit, dir gegen etwas Geld noch mehr beizubringen und auch Bücher auszuborgen. Das bedeutet, dass du jeden zweiten Tag am Nachmittag eine Stunde zu ihm gehen wirst. Natürlich wirst du dadurch bei der Arbeit fehlen, wir haben uns deshalb entschieden einen Traktor zu kaufen, dein Großvater gibt den Großteil seines Ersparten, Mutter und ich den Rest. Am Sonnabend fahren wir drei nach Kronstadt, dort sehen wir uns die Maschine an, über den Preis sind wir uns mit dem Händler schon einig. Für den Traktor wirst du dann mit zuständig sein, du und ich werden ihn fahren, der Großvater kümmert sich um die Arbeiten mit den Pferden. Aber er bringt uns beiden vorher bei wie man diese Maschine bedient, damit kennt er sich ja aus. Ab heute bist du für uns der Jungbauer, damit ist nichts weiter verbunden als die übliche Arbeit, aber du wirst den Hof eines Tages von mir übernehmen. Und als Jungbauer hast du das Anrecht, mit mir und dem Altbauern auch zu einer besonderen Gelegenheit eine Flasche Bier zu trinken. Für dich bleibt das aber noch eine Ausnahme.“
Der Vater ließ den Verschluss der Falsche aufploppen und Peter versuchte es auch, erst als er Kraft aufwendete konnte er den Bügel zurück schnappen lassen und der Duft des Bieres stieg ihm in die Nase. Der erste Schluck schmeckte bitter, sehr ungewohnt, da er sonst nur Tee trank, aber schnell breitete sich Wärme in seinem Körper aus und er fühlte sich leicht benommen. Die Männer sahen ihn aufmerksam an und der Großvater grinste breit.
„Und, wie ist es, das erste Bier zu trinken“ wollte er wissen.
„Ziemlich bitter“ sagte Peter „aber erfrischender als der Tee.“
„Du kommst auch schon noch auf den Geschmack“ lachte der Großvater.
Nach dem Essen lief Peter Becker noch zu Paul und berichtete ihm von den Neuigkeiten.
„Du willst wohl noch ein gebildeter Mann werden“ frotzelte sein Freund „für mich wäre das nichts, mir reicht es was uns Backmann beibringt. Als Bauer brauche ich nicht mehr und wenn ich auf dem Feld bin ist es mir egal wie viel fünf mal dreizehn ist. Aber auf den Traktor bin ich gespannt. Und du darfst ihn dann später auch fahren“ fragte er ungläubig.
„Ja, das hat mein Vater so gesagt“ war Peters Antwort „ich bin riesig gespannt wie die Maschine funktioniert.“
Zu Hause ging er in seine Kammer, der Tag war ereignisreich gewesen und hatte für ihn Überraschungen gebracht. Niemals hätte er damit gerechnet, dass es ihm seine Familie ermöglichen würde mehr als die anderen zu lernen. Er wusste, dass das Geld manchmal knapp war wenn die Erträge nicht so hoch waren oder die Preise für das Getreide oder das Vieh zurückgingen. So war er fest entschlossen seinen Eltern und seinem Großvater diesen Vorschuss auf sein Leben irgendwann mit Zinsen zurück zu zahlen und für sie zu sorgen, wenn sie sich auf das Altenteil zurückzogen. Er glaubte, dass sein Vater die Sache so entschieden hatte, in Wahrheit war es sein Großvater gewesen, der selbst noch einmal mit Backmann gesprochen hatte. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren und mit dieser Vertrautheit zueinander konnte der alte Mann einen verträglichen Preis für den Unterricht aushandeln.
„Dem Jungen soll es einmal besser gehen als uns“ hatte er dem Vater und seiner Mutter gesagt „er ist klug und es wäre schade, wenn er immer nur ein Bauer bleibt. Meine Tage sind gezählt, und was soll ich mein Geld noch zusammenhalten, das Erbe fällt ohnehin irgendwann an euch, mitnehmen kann ich es nicht. Lasst ihn mehr lernen und kauft einen Traktor. Ich habe mit Großmann gesprochen der schon einen hat. Ich bezahle dreiviertel der Summe, ihr den Rest und es bleibt auch noch eine Reserve für schlechte Zeiten. Wir haben noch nie Probleme gehabt unser Getreide zu verkaufen, und mit so einer Maschine sind wir schneller und können vielleicht noch ein paar Schweine und Kühe mehr halten. Ich weiß Walther, du bist der Bauer, aber höre diesmal auf mich, es ist eine gute Lösung.“
Es waren keine weiteren Worte nötig gewesen. Als der Vater nickte holte der Alt Bauer den Schnaps aus dem Schrank und die Männer tranken schweigend. Beide waren vor das Haus gegangen und sich auf eine Bank gesetzt, dann hatten sich eine Pfeife angesteckt und hingen ihren Gedanken nach.
Dorfschulunterricht, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre
Der alte Backmann wohnte in der oberen Etage des Schulgebäudes. Zwei Zimmer standen ihm zur Verfügung und Peter Becker sah beim Hereinkommen, dass das Schlafzimmer mehr ein Verschlag war, gerade groß genug um das Bett, einen Schrank und einen Waschtisch aufzunehmen. Die Stube war größer, und an der Wand stand ein Sofa. Um den mittig platzierten Tisch waren drei Stühle gruppiert und vor dem Fenster fand sich noch Fläche für eine Kommode. An der anderen Wand reihten sich Bücher über Bücher in einem Regal. Alles in allem war der Raum so eingerichtet, dass sich ein allein lebender Mann dort durchaus wohlfühlen konnte. Backmann war für Peter zum einen Respektsperson, zum anderen machte er sich wie die anderen über ihn lustig, denn dessen viel zu kurzen Hosen wurden nur mit Hilfe von Hosenträgern am dürren Körper des Lehrers gehalten und der Rock den er trug, hatte auch schon bessere Tage gesehen, wovon auch die Flicken an den Ellbogen zeugten. Dazu kam, dass Backmann seit einer Kinderlähmung über seltsam verdrehte Knochen verfügte, die ihn für jegliche Arbeit in einer Wirtschaft untauglich machte, und er aufgrund dieser Erkrankung auch noch von geringem Wuchs war. Hätte man ihn auf ein Feld gestellt wäre der Eindruck nicht falsch gewesen eine Vogelscheuche zu sehen, zumal er auch die Angewohnheit hatte, beim Reden mit den Armen herumzufuchteln. Im Gegensatz zu seiner schmalen Gestalt bedeckte ein kräftiger und struppiger Vollbart sein Gesicht, nur die wachen Augen zeigten an, dass man es keineswegs mit einem Irren zu tun hatte. Um den Kontrast dieses Menschen komplett zu machen war ihm eine tiefe Bassstimme gegeben worden und es gab durchaus Momente, dass sein Brüllen durch das Schulgebäude dröhnte, wenn die Halbwüchsigen es wieder einmal zu toll trieben. Im Dorf wurde gemunkelt, dass seine Vorfahren aus Galizien stammen sollten, seinem Aussehen nach waren diese Gerüchte nicht abwegig.
Backmann galt somit als seltsamer Vogel aber genoss auch eine Art Anerkennung bei den Dörflern, denn er verzichtete darauf die Kinder körperlich zu züchtigen, und wenn ein Bauer einen Vertrag abschließen wollte oder sich darüber unklar war welche Preise er verlangen könnte war er derjenige, der die richtigen Erklärungen fand. Er schien genügsam zu sein, denn der einzige Luxus den er sich leistete war etwas Tabak, den er manchmal im Dorfladen kaufte. Das war auch die Währung für die Ratschläge die er gab, von seinem Verdienst als Lehrer konnte er die Wohnung bezahlen und Kleidung brauchte er augenscheinlich nicht, mit zwei Hosen, drei Jacken und einem schäbigen Mantel kam er durch alle Zeiten des Jahres.
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