„Keiner von uns wird über Jacks Tod so schnell hinwegkommen, Frederik!“
„Jack war wie ein Vater. Diese fantastischen Geschichten, ich habe sie bis heute nicht vergessen. Die schönsten waren von Alexander von Humboldt, der war ja auch sein Vorbild, ein Vordenker der globalisierten Wissenschaft, der alle Dimensionen der Welt im Auge hatte, die kosmologischen, planetarischen und philosophischen. Seine irren Expeditionen durch Mittel- und Südamerika, und damals gab es noch nicht mal eine ordentliche Ausrüstung. Der ist nicht im Thermoanzug durch die Welt gegondelt, sondern im Gehrock. Und so hat er auch den Chimborazo bezwungen, 6000 Meter, das muss man sich mal vorstellen. Nur ein Provinzgouverneur und ein Mestize sind mit ihm da hoch, alle anderen haben sich geweigert und sind bald umgekehrt, um wieder Luft zu bekommen. Verrückt, oder? Der Deutsche Humboldt und ein Mestize auf dem Chimborazo. Die Indianer haben ihm geholfen, das Land zu erkunden. Der erste Indio, der ihn begleitet hat, hieß Carlos del Pinto, lustiger Name, oder? Außerdem kommt der Name Azteke von Humboldt, so hat er nämlich die Mexicas genannt, Montezumas Volk ... muss ein ganz einfacher Mann gewesen sein, völlig unkompliziert, gestern Nacht ist mir alles wieder gekommen, als ich in Jacks Arbeitszimmer saß.“
Lynn rieb nervös Daumen und Zeigefinger aneinander. „Kein Wunder, dass ihn solche Geschichten interessierten, unerforschte Gebiete, neue Horizonte, Jack war besessen davon, und das machte ihn alles andere als einfach. Manchmal stand er sich regelrecht im Weg. Sie wissen doch von seinen Depressionen?“
„Ja, aber warum sprechen Sie davon, hat er sich umgebracht?“
„Wo denken Sie hin! So etwas hätte Jack nie getan ... Ist es nicht eigenartig, wer hätte gedacht, dass wir beide an Weihnachten einmal durch Manhattan kutschieren, statt in den Schweizer Bergen mit Jack zu feiern, in dem wunderschönen Chalet Ihrer Eltern ...“
„Wohin fahren wir eigentlich?“
„Lassen Sie uns einfach eine Weile nur fahren, das entspricht meinem Zustand im Augenblick. Ich setze Sie nachher in der Klinik ab.“
„Das kann warten, im Moment fühl ich mich prächtig. Außerdem hab ich noch eine Verabredung in einer Pizzeria in Greenwich Village, die Pizza Hawaii muss da richtig Klasse sein!“
Lynn Parser rutschte irritiert von Frederik weg und betrachtete ihn aus dunkel unterlaufenen Augen. „Sie sehen ziemlich derangiert aus, mein Lieber. Nathalie hat mir am Telefon erzählt, was in Zermatt passiert ist. Sie hatten wirklich Glück ...“
Frederik schaute dumpf ins Schneetreiben. Lynn wirkte konfus. Sie, die sonst ein Energiebündel war, saß vornübergebeugt neben ihm, die Arme aufs Polster gestützt, bleich und eingefallen. Ihr pechschwarz glänzendes Haar trug sie zu einem mit zwei Silbernadeln hochgesteckten Chignon-Knoten, war praktisch ohne Make-up und wie immer in ihrem Lilli-Ann-Outfit, Cool Wool im Sommer und Cashmere im Winter, ein körperbetontes, schwarzgraues Jackett und ein noch nicht mal knielanger, leicht glänzender Rock. „Von vielen Klamotten halte ich nichts. Ich trage das, was mir steht. Und das, was ich trage, steht mir einfach am besten“, sagte sie bei Gelegenheit.
Lynn gehörte zur Familie. Sie und Nathalie waren eng befreundet: „Meine Güte, Lynn, ich bewundere dich! Du leitest deinen Mediengiganten, als würdest du auf einer großen Orgel spielen, wunderbar …“. Und er hatte bislang die Klarheit und Professionalität an ihr geschätzt, mit der sie seine Karriere managte. Sie gab ihm Halt. Sie kannte die Gepflogenheiten des Business , wie sie sich ausdrückte. Lynn konnte man vertrauen.
„Aber keine Sorge, mein Lieber, die Konzerte bis zum 10. Januar haben wir abgesagt. Es war nicht ganz einfach, aber Kath und Path haben die Sache hingebogen. Sie müssen sich auf Ihr Doppelkonzert konzentrieren, Sie am Klavier und gleichzeitig an der Geige ... ich fiebere dem Ereignis entgegen. Auf meinem neuen Schiff ist ja erst die Generalprobe, da sind wir noch unter uns. Alle Freunde werden dabei sein.“
„Klar doch, Lynn, versprochen, ich spiele, das kriegen wir hin!“
„Gut, dass Sie jetzt etwas pausieren. Und Ryan wird Ihnen helfen, sich zu stabilisieren. Sie sind doch wegen der Untersuchungen nach New York gekommen – warum sind Sie nicht gleich in die Klinik gefahren? Wir müssen aufpassen, allzu viele Absagen können wir uns nicht leisten!“
„Ich wollte erst mal zu Jack. Aber da haben sie schon seinen Sarg aus dem Haus getragen. Rudolph hat mir berichtet, was passiert ist, er war ja der erste, der Jack gefunden hat, aber das wissen Sie sicher.“
„Ja, ja, ich weiß!“, brach es völlig unvermittelt aus Lynn Parser heraus. „Ryan hat mich über alles informiert.
Fleischman will offenbar überall die Nase vorn haben, aber reden wir nicht davon ...“ Mit einer abfälligen Geste schnitt sie sich selbst das Wort ab und starrte für einige Sekunden ins Leere.
„Ich würde Jack gern noch mal sehen!“, sagte Frederik nach einer Weile in die Stille hinein.
„Das geht nicht, Jack muss obduziert werden, das verlangen die Gesetze in so einem Fall.“
Auf einmal bremste die Limousine ab und hielt. Frederik blickte irritiert nach draußen.
„Lynn, wo haben Sie mich hingebracht? Verflucht, ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht in die Klinik will!“
„Seien Sie vernünftig, Junge, Sie brauchen dringend Hilfe, Ihre Eltern sind in großer Sorge.“
„Ihr steckt doch alle unter einer Decke, was wollt ihr denn, jeder zerrt an mir, so lasst mich doch endlich in Ruhe!“
Frederik riss den Wagenschlag auf und verschwand.
„Frederik, hier steckst du also! Wir waren doch im Village verabredet, in der Pizzeria, hab drei Stunden auf dich gewartet.“
„Mir war nach einer superheißen Wan-tan-Suppe bei diesem Scheißwetter. Die Kaschemme hat die beste in China Town . “
„Was ist los? Du siehst ja völlig verändert aus! Wo warst du, was ist passiert?
„Was soll denn passiert sein? Du nervst! Fahr nach Hause, du Arsch, und lass mich gefälligst in Ruhe!“, schrie Frederik aus heiterem Himmel und schlug mit der Faust auf den Tisch, als hätte ihn Patrik bedroht. Die Gäste zuckten zusammen und schauten erschrocken hinüber.
„Irgendwas ist doch los mit dir“, fuhr Patrik unbeirrt fort. „Schaust richtig krank aus.“
Ohne zu zögern setzte sich Patrik vis-à-vis, klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ sie kalt im Mund tanzen. Er betrachtete Frederik, als hätte ihn ein Pferd getreten. „Sorry wenn ich noch einen Moment störe, du Arsch, aber eine Erklärung erwarte ich schon. Hab mir nämlich Gedanken gemacht, was mit dir los ist, weil du nicht aufgetaucht bist. Dein verdammtes Mobile war stumm und eine Ortung unmöglich. Aber jetzt sendet das Ding wieder. So hab ich dich gefunden.“
Frederik stockte, ließ sichtlich genervt den Suppenlöffel fallen und stützte sein Kinn auf beide Ellbogen: „Was redest du, ich hatte mein Mobile die ganze Zeit an. Willst du mich irre machen? Hau ab!“ Frederik richtete sich auf und blickte Patrik scharf ins Auge. Der ließ sich nicht beirren, lehnte sich zurück und schlug ein Bein übers andere.
„Also, Junge, noch mal, mit dir stimmt doch was nicht. Du bist plötzlich ganz anders, hast dich wirklich nicht zu deinem Vorteil verwandelt, das Haar, so nach hinten gebunden, schaut aus wie eine Perücke.“
Frederik überhörte Patriks Bemerkung, ohne mit der Wimper zu zucken aß er weiter. Patrik schüttelte den Kopf, was war in den Typ gefahren? Der hatte plötzlich was Glattes, Unpersönliches und seine Bewegungen und Gesten wirkten so ungelenk und mechanisch wie die eines Roboters. Irgendwie kam er ihm vor wie ferngesteuert. Zu Hause hatte er sich seine Website angesehen und war auf YouTube, Facebook und Twitter gegangen, verdammt, der Junge war wirklich berühmt. Im Netz tobte der Hype. Patriks Sache war klassische Musik nicht, kein Wunder, dass er nie was von Frederik gehört hatte.
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