Peter Mussbach
Ein Puzzle
1949 – 1968
RAUMLOSER RAUM
Blog von Peter Mussbach
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ISBN 978-3-7375-3773-5
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Wenn er nicht so geblendet wäre, könnte er die Farbblitze des sanften Gewitters rund herum, das ihn sich schon längst einverleibt hat, besser erkennen. Was auch immer mit einem geschieht, so muss es wohl sein, wenn man im aufgewühlten Meer dahintreibt, unter oder über Wasser, denn atmen muss man nicht, hört er irgendwo.
Sagen kann er nichts, noch nicht einmal sprechen. Wenn er wenigstens stammeln könnte, Satzfetzen herauspressen wie „Aberomalieb“ oder „Raketetrakete“ oder „Glitzergeglitzer“ zum Beispiel, er würde sich doch nicht verraten wollen, schon gar nicht in einer solchen Situation, wo man drinnen nicht wissen kann, mit wem oder was man es draußen zu tun hat.
Bei allem seltsamen Zauber aber, hatte er nicht gerade noch versucht, herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat? So erinnert er sich später das eine oder andere Mal, wenn er irgendwo vor einem offenen Fenster sitzt, und das Draußen wie beiläufig an ihm vorüber zieht: Was ist „Empfindung“, wenn alles sich wie selbstverständlich in Bewegung befindet? Und das Denken kreist, als würde es sich selber denken, obwohl es so richtig noch gar nicht da ist. Und, was sieht man, oder, was kann man denn sehen, wenn man durchs Fenster schaut. Der Blick um die Ecke, der macht nicht froh, wenn man sieht, was sich da so alles den Blicken entzieht: Seinen Augen kann man eben nur einen Schrittweit trauen.
Er erinnert sich, auf einem kalten, vom vielen Desinfizieren schwefelgelb ausgeblichenen Wachstuch gelegen zu haben, mit dem das Gestell oben auf der Metallplatte überzogen war, es hätte aus der Anatomie stammen können, oder aus der Pathologie.
Wie er sich da so liegen sieht, ahnungslos hingestreckt, hatte er damals überhaupt schon einen Anflug von Ahnung davon, was ein Wort wie „Gestell“ bedeutet, oben auf dem Gestell? Wo ist oben?
Später denkt er, dass er, der denkt, nichts anderes ist, als ein Abdruck der Welt, welche als Eindruck in ihm Wirklichkeit geworden ist. Was ihn nicht gedrückt hat, dafür hat er auch keinen Ausdruck. Und „Ich“ – davon spricht er nur selten, nur dann, wenn er nicht mehr weiter weiß. Was soll daran Denkenswertes sein.
Im Grunde seines Herzens fühlt er sich eigentümlich wohl und geborgen, wenn da nicht jetzt, wie aus heiterem Himmel, von oben auf ihn unerbittlich niederstrahlende Lichtlanzetten zu tanzen begonnen hätten, die in die Seele brennen. So entstehen Geschichten im Kopf, schwirrt es ihm durch die Schläfen, so schnell vergisst man das nicht. Wo er sich befindet, weiß er nicht. Es spielt auch keine Rolle. Er wird es nicht herausfinden können. Also lässt er es sein, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Die sengenden Lichtflunkerstrahlen, welche aus unermesslicher Höhe wie böser Regen auf ihn herabprasseln, pieksen in den Augen. Zum Schutz will er die Hände vors Gesicht halten, aber beide Arme seines Körpers sind fixiert, mit festen Gurten gehalten, so dass seine Augen unverwandt den Strahlen ausgesetzt bleiben. Selbst wenn er versucht, die Augen zur Seite, nach schräg oben oder links unten zu rollen, sein blickloser Blick vermag sich ihnen nicht zu entziehen. Könnte es nicht sein, dass die Feuerlichtpfeile gar nicht von oben, sondern aus dem tiefsten Inneren geflogen kommen und sich gleichsam wie Spieße in den Augäpfeln festhaken?
Bilder eines alles penetrierenden und perforierenden Sternenhimmelgelichter steigen in ihm auf, das im Widerschein der Erde erst Kontur verleiht, einem Sternensteinball, welchen die Gravitation gerade noch am Zügel hält.
Er versteht ohne zu verstehen: Das Gestell hält ihn fest. – Wenn er später Nachtbilder der Erde in Händen hält, ängstigen ihn weniger die vielen dunklen Gebiete unter seinen Augen, als vielmehr die Lichtballungen der Ballungszentren, welche von unten ihren Schein nach oben pulsen, als wären sie allein im Dunkel der Nachbarn. Tagsüber lässt es sich nur scheinbar leichter leben. Wo ist dann der Mond! Er grinst, wenn er manchmal auch tagsüber am Himmel steht.
Die abgründige, ihn Jahre später ins Bodenlose stürzende Empfindung aber, dass die Sterne am Himmel nichts anderes sind als verspätete Signale aus einer vielleicht schon ewig dunklen Vergangenheit, die als Sternensterne schon nicht mehr existieren, obwohl man ihr Flunkern noch leuchten sieht, macht ihn unsicher und still. Bald wird es keine Sterne mehr geben, dann ist auch die Nacht verleuchtet und ein anderer Tag bricht an.
Der vage Schein von Vergangenem ist von da an für ihn als spürbarer Hauch in jedem und allem sichtbar enthalten. Und eine gedeihende Natur, die nicht auf der erdigen Kraft des Zerfalls beruht, ist keine Natur, sie würde unversehens verwesen, und alles Lebendige wäre auf immer getilgt. Dann gäbe es auch niemanden mehr, der die leblose Verwesung noch würde riechen können. Dann hätten es selbst die Hunde schwer.
Als die Hand des Chirurgen das Skalpell mit routinierter Geste vom OP-Tisch aufnimmt, ist er schon längst ins Nirwana, dessen frisch belebtes Nichts ihm eigentümlich vertraut vorkommt, abgetaucht. Die widerwärtigen, alles Fleisch verzehrenden Lichtfeuerpfeile sind verschwunden, jetzt amalgamiert mit Myriaden anderer Spektrallichter, die ihn wie spätsommerliche Glitzerluft umhüllen und erwärmen. In seinen mutmaßlichen Gedanken und Empfindungen, welche ihn allmählich verlassen, ganz geborgen, dreht er sich zur Seite und schläft ein.
Nach einer wunderbar langen Weile hat sich das Gewitter verzogen. Das flirrende Gelichter ist verschwunden, und sein Blick geht vor sich hin: Nass geschwitzt liegt er in seinem Bett, den süßlich stechenden Geruch von Äther in den Nasenhöhlen, der später, wenn er still sitzend den Kopf nach oben gereckt, den Nachthimmel studiert, um den Rätseln endlich auf die Spur zu kommen, immer wieder alles durchdringt: Äther und Äther. Er lacht.
Der Himmel will sich ihm um jeden Preis entziehen: Je schneller er rennt, je virtuoser er das Tempo wechselt und unvorhersehbare Haken schlägt, je überraschender er attackiert und wie aus dem Nichts nach oben hechtet, höllisch davon überzeugt, den Kometen endlich zu fangen, um ihn dann, glühend in seinen Händen, sofort wieder in den Himmel zurück zu schleudern wie bei einem irren Ballspiel mit der Ewigkeit, desto ruhiger und vollkommen unbeeindruckt dreht die Himmelsglocke wie von Geisterhand bewegt, immer in geschickter Distanz zu jeder seiner Bewegungen, die Achsen des Gewölbes von ihm weg und rückt den Kometen in unerreichbare Ferne, so dass er – letztlich nur noch ins Leere springend – zwangsläufig zu Boden stürzt.
Reglos liegt er im Wasser einer Sommerregenwiese, das noch aufgeregt kleine Wellen schlägt und spürt die Kälte schon zwischen der Haut. Mit dem treuesten Blick schaut er spielerisch um sich ins Dunkle wie ein Hund, hat ein nasses Fell, dumme Schuldgefühle im Bauch und zittert tierisch am ganzen Leib, als würde der Himmelskörper jeden Augenblick herabstürzen und Chaos anrichten. Der aber ist lange weg und nicht mehr zu sehen. Er richtet sich auf. Die Strahlen der zwischen den Bäumen aufgehenden Sonne fangen seinen Blick und Körper. Das Flimmern im Auge, das sie in ihm provozieren, das Glitzern um ihn herum, verwirrt ihn. Hat er sich zu allem Überfluss am Kopf verletzt. Sieht er Sterne?
Eine Weile hockt er mit angezogenen Beinen, welche seine Arme fest umschlungen halten, im Ungefähren und blinzelt erwartungsvoll ins Weite. Es ist still. Still! Er hat sein Gehör verloren. Die Resonanz seines Herzschlags schwingt in jeder seiner Adern, während die auf seiner bloßen Haut prickelnde Wärme der vor ihm aufgehenden Sonne eine unvermutete, nie gehörte Musik in jeder seiner Zellen provoziert – innen und außen im Einklang.
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