Herbjørg Wassmo
Der stumme Raum
Tora-Trilogie Band 2
Diese Neuübersetzung entstand mit finanzieller
Unterstützung von NORLA.
Titel der norwegischen Originalausgabe:
Det stumme rommet
© Gyldendal Norsk Forlag AS 1983. All rigths reserved
Alle Rechte vorbehalten
© Argument Verlag 2014
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
Foto: © Francesca Woodman, Space 2,
Providence, Rhode Island 1975–1978,
courtesy George and Betty Woodman
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-86754-868-7
Erste Auflage 2014
Herbjørg Wassmo
Tora-Trilogie Band 2
Deutsche Neufassung von Gabriele Haefs
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Es hämmerte! Hämmerte und hämmerte. Das Herz war ein Ungeheuer, das sie verschlang.
Sie versuchte sich aufzusetzen. Wollte das Kissen hinter den Rücken stopfen, um aufrecht sitzen zu können. Aber sie fand kein Kissen. Luft! Sie beugte sich zum Kopfende des Bettes zurück, um besser atmen zu können.
Sie glaubte, in der Dachstube von Bekkejordet zu liegen, bei Tante Rakel und Onkel Simon. In dem weißen Bett. Mit der rosa Nachttischlampe daneben. Bestimmt. Sie erkannte das alles ja wieder. Aber nein …
Sie riss den Mund weit auf. Sie keuchte. Es half ein wenig. Seltsam, wie unruhig die rosa Nachttischlampe an diesem Abend brannte. Sie flackerte wie das Nordlicht – oder …
Wo war sie jetzt? Das Gesicht und der Hals. Schweiß. Scharfer, stickiger Geruch. Dann war es doch nicht Bekkejordet. Auch nicht die Nachttischlampe. Es war die Truhe. Die Truhe an der Wand von der Tobiashütte. Sie war in die Truhe geglitten. Und dort hinten auf der Tür war sein Gesicht. Es wuchs ihr entgegen. Sickerte in ihr klopfendes Herz hinein. Wurde größer und größer. Sie spürte, dass sie nahe daran war aufzugeben. Einfach aufzugeben. Aber nein, das durfte sie nicht.
Dann war er also tot? Ja! Sie wippten ihn mit der Tür, die sie aus den Angeln gehoben hatten, auf und nieder und versuchten ihn ins Leben zurückzuholen. Versuchten das Salzwasser aus ihm herauszupressen. Aber sie schafften es nicht! Niemand schaffte das. Denn Tora hatte ihn in den Tangbüscheln gelassen. Sie hatte ihn ertrinken lassen. Sie würde niemals mehr im Meer baden. Wenn sie nur Luft bekäme. »Lieber Gott, ich hatte doch nur die Strümpfe an, das weißt du vielleicht noch. Es ging so langsam … deshalb konnte ich erst dort sein, als …«
Er hatte ein Gesicht bekommen. Es leuchtete ihr blau entgegen, mit alten dunklen Bartstoppeln. Die Augen waren geschlossen und doch offen. Sie sah deutlich die großen weißen Zähne zwischen den halboffenen bläulichen Lippen. Er war also tot! Jetzt stand sie ganz oben auf dem Gerüst von Onkel Simons Baustelle. Der Wind strich über ihre Haut. Über alles. Und die Stiefel fielen und fielen. Fielen sie wirklich? Nein, sie selbst fiel. Sie fiel in den Regenbogen, in die Flötentöne, in das Feuer. Aber er war tot.
War es nicht so, dass die Menschen, wenn sie jemanden sterben sahen, das Böse abschütteln konnten, das sich zwischen ihnen abgespielt hatte? Dann konnte er doch nicht tot sein!
Endlich konnte sie sein Gesicht ansehen, ohne sich abzuwenden. Es war ein ganz normales Männergesicht, wie sie es in Været jeden Tag sah. Eines, wie es alle Männer hatten. Ein ganz gewöhnliches – man brauchte sich davor nicht in Sicherheit zu bringen. Und endlich bekam sie wieder Luft. Langsam beruhigte sich ihr Herz. Alles versank in einer wirbelnden nebligen Dunkelheit.
Sie kam am Küchenschrank wieder zu sich. Die Mutter hielt ihr einen nassen Lappen ans Gesicht. Die Übelkeit war nicht schlimm. Die erlebte sie nicht zum ersten Mal. Sie nahm Mutters Hand und hielt sie fest. Sie spürte, dass viele Wörter im Raum hingen, die keine ausgesprochen hatte. Die Dunkelheit stand in dem offenen Fenster wie eine Wand. Es zog wohltuend. Kühl. Frisch.
Die Mutter war blass, aber nicht ratlos. Es gab etwas für sie zu tun. Sie war schon mit schwierigeren Dingen fertiggeworden als mit einer Ohnmacht.
Es war an dem Tag, als Henrik Toste abgeholt und wegen Brandstiftung in Simon Bekkejordets Fischereibetrieb und den Fischerhütten ins Gefängnis gebracht worden war. Es war an dem Tag, als Tora zu Ingrid gesagt hatte, dass jetzt wohl die Preiselbeeren oben am Veten reif seien.
Jetzt brannte es nicht, weder in Simons Fischerhütten noch in der Dachstube von Bekkejordet, wohl aber an dem alten Küchenschrank, an den Tora sich lehnte. Rund um die Griffe der Schranktüren sah man keine Farbe mehr. Denn die Mutter fand abgebeizte Farbe und nacktes Holz besser als alten Schmutz.
Erst jetzt begriff Tora, was geschehen war. Die Wirklichkeit war wie durch eine Explosion aus den Fugen gerissen worden. Erst nach einer halben Stunde sagte sie endlich etwas. Ingrid blieb ganz ruhig und machte sich an allem Möglichen zu schaffen.
Dreimal holte sie frisches kaltes Wasser aus der Leitung und gab der Tochter zu trinken, ohne dass diese darum gebeten hätte. Gegen sechs Uhr machte sie sich für die Abendschicht in der Fischfabrik fertig. Suchte in aller Ruhe ihre Sachen zusammen. Ihre Stimme war wie immer, als sie Tora bat, so lange liegen zu bleiben, bis sie zurückkäme. Und Tora nickte. Sie hatte Farbe bekommen. Aber Ingrid beunruhigte diese Farbe. Sie passte gar nicht zu Tora. Vielleicht sollte sie doch den Arzt holen? Ob sie in der Fabrik Bescheid sagte, dass sie heute Abend eine Aushilfe für sie kommen lassen mussten? Aber nein. Nicht heute Abend. Sie musste da durch. Da half gar nichts. Tora musste allein zurechtkommen. Sie war zäh.
»Haste etwa Fieber?«
»Fieber? Wieso das denn?« Toras Stimme war matt, aber wiederum auch nicht so, dass man auf eine ernstliche Erkrankung hätte schließen können.
»Nein, denn sonst bleib ich lieber zu Hause.«
»Nein, ich hab kein Fieber.«
Tora hatte verstanden.
Elisif, die unter dem Dach wohnte, hatte Sol mit einem Zettel zu Ingrid hinuntergeschickt. Darauf stand, dass Ingrid, falls sie geistlichen Trost brauche, um sechs Uhr an diesem Abend im Gebetshaus zusammen mit den anderen das Knie beugen könne. Ingrid antwortete nicht. Sondern ging zur Abendschicht.
Unten im Dorf beeilte sie sich so sehr, dass ihr der Schweiß ausbrach. Aber es gab keinen anderen Ort, nach dem sie sich weniger gesehnt hätte. Sie band sich die weiße Schürze und das Kopftuch um. Ihre Hände zitterten ein wenig, als sie sich an den Tisch mit den Schachteln und dem Cellophan setzte. Sowie die drei anderen Frauen auf ihrem Platz saßen, richteten sie ihre Augen auf Ingrid. Dann kamen die Männer. Auch sie hatten Augen. Ingrid blickte nicht auf. Wartete nur. Starrte auf die Stahlplatte. Ihr Gesicht war wie eine Maske.
Hätte sie aufgeschaut – dann hätte sie vielleicht so manchen Blick eingefangen, der weder feindselig noch schadenfroh war. Aber Ingrid saß wie in einer Kapsel.
Sie saß vornübergebeugt und wartete. Dann kam der Fisch. Und sie legte ein unglaubliches Tempo vor und schuftete wie ein Teufel. Bereits in den ersten fünf Minuten wurde ihr gereizt mitgeteilt, dass sie ihr Tempo herunterschrauben solle. Da saß eine junge ungeübte Frau an Gretes Stelle. Anlaug. Aber Ingrid dachte: Soll die doch sehn, wie sie zurechtkommt. Soll sich die Zähne ausbeißen. Soll lernen, sich nach den Gesetzen in Været zu richten.
Nach fünf Stunden Schicht holte Ingrid zusammen mit den drei anderen ihren Mantel. Hansine schwankte ein wenig, als sie sich die Gummistiefel anzog. Sie war ganz blass. »Biste krank?«, fragte Anlaug. Ingrid merkte, dass Frieda sie schief ansah. Sie band ganz schnell die Schürze ab und drehte mit steifen Fingern den Deckel der Thermosflasche zu. Es lag etwas in der Luft.
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