Herbjørg Wassmo
Schritt für Schritt
Foto: Rolf M. Aagaard
Herbjørg Wassmo, geboren 1942 auf Skogsøya (Vesterålen, Norwegen), war zunächst Lehrerin und schrieb nur als Freizeitbeschäftigung. 1976 brachte sie ihren ersten Lyrikband heraus. 1981 erschien ihr Romandebüt Huset med den blinde glassveranda (Deutschenkind), Band eins der beeindruckenden Tora-Trilogie, für die sie 1987 die höchste Auszeichnung des Nordischen Rates erhielt. Seitdem widmet sie sich ganz dem Schreiben.
Herbjørg Wassmo gilt als angesehenste und meistgelesene Schriftstellerin Norwegens. Ihre Werke sind in 24 Sprachen übersetzt.
Gabriele Haefs studierte Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltologie und Nordistik und ist als Übersetzerin aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen tätig. Sie engagiert sich unablässig für skandinavische Literatur.
Herbjørg Wassmo
Deutsch von Gabriele Haefs
Literaturbibliothek
Argument · Ariadne
Für Wenche Marit – meine Schwester
Junger Fischer und Abdruck auf Haut
Sie gleitet rückwärts dem entgegen, das sie nicht weiß.
Der Abendnebel steigt aus Moor und Wasser. Wie fremder Atem. Macht alles unwirklich. Legt sich über die Riemen, als sie rudert. Das Knarren der Ruder wird zu fernem Seufzen.
Der Fischer hat ihr das Gesicht zugekehrt und kann die Fahrrinne sehen. Hebt die Hand und zeigt, wohin sie unterwegs sind. Sie korrigiert die Richtung mit leichten Ruderschlägen, sagt aber nichts. Rudern, damit kennt sie sich aus.
Er befestigt Köder an den Haken. Zwei sehnige Finger ziehen zappelnde Würmer aus der Erde in der Blechbüchse. Die Büchse hat Löcher im Deckel, damit die Würmer Luft holen können, bis er sie braucht. Arme Würmer im wahrsten Sinne des Wortes. Er nimmt einen nach dem anderen. An der Schnur hängen viele Haken. Die Würmer krümmen sich standhaft um das Metall.
Dann wirft er die Schnüre über Bord. Das Gewicht zieht sie nach unten. Bis auf den Grund. Er holt zwei Faden ein und ruckt ab und zu daran. Wie zum Zeitvertreib. Während er an etwas anderes denkt. Davon erzählt, was er sieht. Die Berge. Die Seen dahinter. Alles, was zu seinem väterlichen Erbe gehört. Er hat Pläne mit dem Hof. Wenn er erst älter ist und ihn übernehmen kann. Schafe, Tourismus und Forellenfischen. Tankstelle an der Hauptstraße, es wird eine Goldgrube.
Alle brauchen Benzin!, sagt er und lächelt.
Die drei Fische liegen unter einem Sack im Boot, als sie an Land gehen.
Nehmen wir die nicht mit?, fragt sie.
Später, sagt er.
Es wird sich herausstellen, dass das eine Art Eigenschaft ist. Was er tun will, tut er sofort. Alles andere ist für später. Im Moment hat er die Realschule hinter sich gebracht und es sind Sommerferien. Lächelt ein trauriges Lächeln mit geschlossenem Mund und redet leise und eifrig.
Sie müsste zu der Hütte gehen, die ihre Eltern von seinem Vater gemietet haben. Aber das tut sie nicht. Das Gras vor dem Haus ist feucht vom Tau. Sie geht barfuß und spürt, wie das Wasser zwischen ihren Zehen seufzt. Die Haustür jammert. Die Nacht kommt durch die plötzlich vom Sonnenlicht erfüllten offenen Fenster herein. Sie sitzt auf dem Bett und atmet kühle, frisch gehauene Kiefer ein. Und dieses Seltsame der Haut eines anderen. Eine verstaubte Mundharmonika liegt auf dem Nachttisch. Sie sind zu zweit. Nahe. Er nimmt ihren Zopf in die Hand und sieht ihn an. Scheint ihn zu wiegen. Lässt ihn wieder los und lächelt.
Erst ist das Haus ganz still. Sie lauscht auf die Stille. Dann, als ob sie beide darauf gewartet hätten, ertönt von unten der Ruf der lahmen Frau. Beide wissen, dass sie dort ist. Sie ruft nach ihrem Sohn.
Er hat keine Augen. Sie weiß, dass sie blau sind, aber sie sind in seinem Kopf verschwunden. Seine Augenlider zittern im Nachtlicht. Sein Mund ist rosa. Seine Haare sind üppig und er hat tiefe Geheimratsecken. Blond, fast grün sind seine Haare. Jetzt steht er auf und schaltet den Plattenspieler ein. Tangomusik. Eine Männerstimme singt auf Deutsch. Dann geht er hinaus in den Flur und die Treppe hinunter.
Als er zurückkommt, sagt er, seine Mutter wisse, dass sie da ist, aber es mache nichts. Er dreht die Musik lauter. Sie tanzen dicht aneinandergeschmiegt in dem kleinen Zimmer. Seine lahme Mutter tanzt unter den Bodenbrettern mit. Aber sie ruft nicht mehr. Schwingt sich nur immer mit ihnen im Kreis, denn sie können ja nicht anders und müssen sie dazuholen.
Die Frau sitzt auf einem Hocker am Küchentisch, und das Reden fällt ihr schwer. Ihr Gesicht ist ein wenig schief. Dennoch spricht sie.
Sie kann nur bei der Tür stehen bleiben und warten, nachdem sie ihr Begehr vorgetragen hat. Einen Eimer Milch kaufen.
Setz dich, Mädel, sagt die Ältere.
Sie spricht nicht mit dem Akzent der Gegend, sondern mit einem Tonfall, der weiter aus dem Süden stammt. Sie tut wie ihr geheißen. Einsamkeit füllt den Raum wie ein Echo. Zwischen ihnen gibt es eine Neugier. Kleine scharfe Krallen und Wärme. Wie ein Katzenjunges, das auf ihrem Schoß herumkriecht. Sie mag seine Mutter, ohne sie zu kennen. Das Gesicht der Mutter zeigt den Abdruck von Weinen. Aber sie weint nicht. Sie befiehlt, Kaffee aus dem Kessel auf dem Herd einzuschenken.
Nimm dir eine Waffel, sagt sie. Die liegen in der Schüssel auf dem Tisch.
Die Fliegen sind schon dort. Ihre Mutter hätte einen Deckel daraufgelegt. Oder ein Geschirrtuch darüber.
Als sie geht, denkt sie, dass sie noch nie eine solche Begegnung hatte. Dass das hier einzigartig ist. Die Fliegen hat sie fast vergessen.
Sie sitzt am Fenster in der Hütte und glaubt, dass er vorbeikommen wird. Bald. Sie weiß, dass er den alten Weg nimmt, wenn er im Wasserfall angeln will. Aber er kommt nicht. Er hat anderes vor. Sie weiß nicht, ob er wichtig für sie ist. Aber er hat in gewisser Weise auf ihrer Haut einen Abdruck hinterlassen. Einen nagelneuen Augenblick. Sie wusste nicht, dass sie für Haut etwas anderes empfinden kann als Abscheu.
Sie geht jetzt auf die Realschule. Die Weidenröschen am Hang haben sich bis nach ganz oben hochgeblüht. Sie werden in einer Deutschenbaracke unterrichtet und sie kennt fast alle. Sie sitzen eng zusammengedrängt und verbringen die Freizeit miteinander. Jedenfalls die, die nicht mit dem Bus nach Hause fahren müssen.
Er ist derzeit offenbar selten im Ort. Sie sieht ihn zweimal, aber nur aus der Ferne. Und man kann doch nicht hinter jemandem herrufen, dem man nur zweimal begegnet ist. Er ist älter als sie und scheint sich schnell von allem zu entfernen. Die anderen sprechen über ihn, sie beteiligt sich nicht daran. Eigentlich hat sie keine Verwendung für ihn. Wozu sollte das gut sein?
Sie hört, dass es seiner Mutter noch schlechter geht. Ab und zu sieht sie deren Gesicht vor sich und hört sie sagen, sie solle sich eine Waffel nehmen.
Rasch wird es Oktober. Auf einem Fest im Lokal sieht sie ihn tanzen und lachen. Er hat eine Flasche in der Jackentasche. Die Jacke hängt auf der einen Seite schwer nach unten. Er ist ein anderer als im Sommer. Das liegt sicher an Anzug und Schlips. Er steht die ganze Zeit in einem Kreis von Mädchen. Ist offenbar sehr beliebt und sieht sie nicht. Sie fühlt sich in ihrer Schüchternheit wie in einer Schneewehe. Tanzt mit den Jungen aus ihrer Klasse. Die Musik ist weit weg.
Als sie nach Hause geht, spürt sie, wie in ihrer Brust eine riesige Blase wächst. Sie versucht flach zu atmen, damit die Blase nicht birst. Die Blase steigt ihr in den Hals und schmeckt nicht gut.
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