Auf dem Heimweg ging Tora an der Hütte von Frits und Randi vorbei. Drinnen war alles dunkel. Da waren sie wohl nicht zu Hause.
Er war auch wie eine Wunde, unter der Haut. Frits. Nicht so sehr, weil er taub war und nicht sprechen konnte. Eher, weil sie immer an die Gefahr dachte, wenn sie ihn sah. An dem Morgen, als sie unter dem Fischgestell von ihm fortgelaufen war, hatte sie ihn verloren. Weil er nicht wusste. Niemals wissen durfte, dass er der Erste war, der sie angefasst hatte, nachdem … er …
Später ging sie ungern in die Nähe des Kais und der Hütte, wo Frits wohnte. Den Sommer über hatte sie am Strand auf den Steinen gesessen und über die kleinen Inseln hinweggestarrt, während der feuchtkalte Wind sich ungebeten unter die schäbige Strickjacke geschlichen und ihr das Wasser aus den Augen getrieben hatte. Und es gab etwas, wofür sie keinen Namen finden konnte.
Sie wusste nicht, was ihr am meisten fehlte: Randi, die Bücher, die Musik – oder Frits.
Später dachte sie nicht mehr darüber nach. Es war etwas Fremdes in ihre Gedanken gekommen, soweit es ihn betraf. Es war eine Art gefühllose Erwartung. Den ganzen Sommer über hätte sie ihn gern getroffen. Und sie wollte es auch wieder nicht. Sie wollte zu ihm gehen. Dort sitzen mit der roten Decke über den Beinen und lesen. Wollte ihn anschauen – sein Gesicht erforschen, wenn er es nicht merkte. Aber gleichzeitig – wollte sie es nicht. Nun lag Mutters Schande wie ein Deckel über dem Ganzen. Er saß im Gefängnis. Tora konnte nicht mehr zu Frits gehen. Wäre am liebsten nirgendwo mehr hingegangen.
Trotzdem schlich sie oft bei Frits vorbei, wenn sie allein war. In der letzten Zeit hatte es sich ergeben, dass sie immer allein war. Nun war er in seine Taubstummenschule gefahren. Frits … Er würde erst zu Weihnachten wieder nach Hause kommen. Randi hatte Sol getroffen und nach Tora gefragt. Hatte ihr einen Gruß ausrichten lassen und dass sie doch herunterkommen solle, bevor Frits wegfuhr. Es würde Kuchen geben – ein Fest. Aber das war an dem Donnerstag gewesen, an dem die Mutter mit der Fähre allein aus der Stadt zurückgekommen war, und Tora brachte es nicht über sich, zu Frits und Randi zu gehen.
Später gab es so viel, womit sie nicht fertigwurde. Sie kam gleichsam nicht von der Stelle. Drückte sich nur im Dorf herum und nickte, wenn jemand grüßte. Tora wunderte sich, dass alle sie grüßten. Ihr ging plötzlich auf, dass es wohl daran lag, dass sie ihnen leidtat. Und schon krochen ihr die Ameisen über den Rücken und den Hals. Sie konnte glühend rot werden – auch wenn niemand sie ansah.
Und dann war da noch die Mutter. Sie wollte offenbar nicht, dass Tora zu irgendjemandem ging. Und Tora konnte sich auch nicht vorstellen, nach Bekkejordet zu gehen.
Die Küchendecke, die sie für die Tante sticken sollte, war fertig geworden, während die Mutter bei der Arbeit war, aber Tora hatte sie unter der Matratze versteckt und sich nicht aufraffen können, sie nach Bekkejordet zu bringen. Natürlich hätte sie es tun können, ohne dass die Mutter davon wusste. Aber es stand jetzt schon genug zwischen ihnen.
An diesem Tag hatte die Mutter sie auf die Post geschickt, um zwei Postanweisungen zu holen, und als Tora zurückkam, hatte die Mutter sich gleich hingesetzt und die eine ausgefüllt. Dabei schien sie in sich zusammenzusinken. Sie sah ganz grau aus. Gebeugt. Dann ging sie zum Ofen und warf die Postanweisung ins Feuer. Machte ein Gesicht, das deutlich jede Frage abwehrte. Darauf füllte sie das zweite Formular aus. Schnell, als ob sie Angst hätte, dass sie es sich anders überlegen könnte: »Für den Kleiderstoff. 32 Kr. An Rakel Bekkejordet.« Und Tora ging damit zur Post und senkte den Kopf, als Turid hinter dem Schalter die Postanweisung um- und umdrehte und Tora komisch ansah, bevor sie den Stempel aufdrückte. Sie schien Tante Rakel für alle Zeiten wegzustempeln.
Tora schlich davon. Es war schlimmer, als wenn sie bei Ottar Waren anschreiben oder beim Milchverkauf im Notizbuch quittieren lassen musste. Ja, es war viel schlimmer. So, als ob die Leute in die Mutter und sie hineinsehen könnten. Durch Mantel und Kleid hindurch sehen könnten, dass sie schmutzige Wäsche anhatten. Das Metall, das auf das Papier schlug. Der Stempel, der die Tante aus den Tagen herausschlug, die noch kommen würden. Toras Schritte klangen hohl auf den Fliesen. Ihr wurde klar, dass sie sich auf dem Weg nach draußen befand. Es roch nach Leim und Staub und Geld. Dicke, schmierige Bündel zwischen Turids Fingern. Nun lagen Mutters Zehnkronenscheine hinter den Gitterstäben. Und die zwei Kronenstücke waren kalt und tot und blank. In jedem Kronenstück ein Loch.
Als ob jemand Löcher in Tante Rakel gebohrt hätte. Als ob die Mutter es selbst getan hätte. Begriff sie das nicht? Die Tür dröhnte hinter ihr. Sie hatte eine Scheibe, die von der Meeresgischt und vor lauter Dreck ganz blind war. Tora schlenderte durch den Ort und dachte die ganze Zeit, dass die Gefahr aus der Kammer herausgefegt worden war. Und eine kleine Freude wuchs in ihr. Tora dachte angestrengt nach. Und Rakel und Simon und ihre Mutter wurden dadurch zu Freunden.
Ehe sie nach Hause ging, war der Tag schön.
Es waren viele Spatzen in den Pfützen.
Im Hof stand ein rotes Fahrrad mit einem roten Netz und einer glänzenden Lenkstange.
Eines Nachmittags, als Sol und Tora zum Milchholen unterwegs waren, tauchten hinter ein paar Steinen zwei Jungen aus dem Ort auf. Sie hatten sich an der einzigen Stelle versteckt, wo es weder Häuser noch Menschen gab. Da konnte kein Fenster geöffnet werden, und keine Mutter konnte den Kopf herausstrecken und sich einmischen. Keine Zeugen, alle Möglichkeiten. Ole und Roy. Ole hatte wohl noch nicht seine Niederlage in der Schule bei Gunn vergessen, auch wenn es schon lange her war. Sie standen breitbeinig und mit den Händen in den Taschen da. Grinsten forsch. Besonders Ole. Fühlte sich bereits als Sieger. Niemand war da, der petzen konnte.
»Ist das nicht das Goldkind von der Deutschenmutter, das hier rumspaziert und mit der Milchkanne schlenkert, he? Wie viel Brände haste denn heut schon gelegt?«
Ole trippelte wie eine Dame vor Tora her. Sie hatte diese alten Sticheleien schon lange nicht mehr gehört. Sie taten weh. Sie hatte das Gefühl, als ob jemand einen Stein geworfen hätte. An den Kopf. Ins Gesicht. In die Augen. Aber sie kniff den Mund zusammen. Schwieg mit jeder Faser ihres Wesens.
»Halt’s Maul, du Scheißfischer!«, schrie Sol und ging auf ihn los.
»Was sagt die da, kommt vom Tausendheim und spielt sich hier auf, wie? Du fette Sau. Wie steht’s denn mit deiner Mutter, ist die nach Hause gekommen und immer noch verrückt?«
Sol sah rot. Sie war ein erwachsenes, konfirmiertes Mädchen mit einem großen, heiligen Zorn. Sie ging mit erhobener Milchkanne auf den Bengel los. Ein Glück, dass die Kanne noch leer war. Sie schlug sie mit voller Wucht auf den Schädel von Ole, der einen halben Kopf kleiner war als sie. Tora machte große Augen. Sie hatte Sol noch nie handgreiflich werden sehen, wie schlimm es auch gewesen sein mochte. Im Gegenteil, Sol war es, die immer bei klarem Verstand blieb und zwischen die Streithähne ging, bevor die Nasen bluteten. Jetzt war sie wie ein wild gewordener Stier. Die kurzgeschnittenen Haare sträubten sich, ähnlich dem Bild von dem Igel, das im Schulflur hing. Sie hatte Schaumflöckchen in den Mundwinkeln.
Nachdem Ole sich von dem Erlebnis mit der Milchkanne so weit erholt hatte, dass er begriff, was hier vor sich ging, erfasste der Wahnsinn auch die Jungen.
Tora sah deutlich, das die Sache kein gutes Ende nehmen würde. Sie waren zu zweit gegen Sol. Starke Übermacht.
Tora rief, dass sie Schluss machen sollten, aber niemand hörte oder sah. Die Jungen hatten Sol jetzt auf dem Schotterweg unter sich liegen. Der eine hielt ihre Arme, der andere saß auf ihrem Bauch und boxte sie in die Brüste, so dass sie jammerte.
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