Peter Mussbach - Der Schrei

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Schauplatz New York: Zwei Männer – Hacker der eine, Shootingstar der internationalen Klassikszene der andere – schlittern in eine labyrinthische Verschwörung hinein. Der Mann, der ihre Wege zufällig zusammenführt, ist tot. Und hat eine kryptische Botschaft hinterlassen, die beide auf eine Odyssee schickt – bis sie in einem mörderisch gut getarnten Netz zappeln, das Wissenschaftler und die NSA gesponnen haben. Um das Überleben der Menschheit zu sichern. Aber heiligt der Zweck alle Mittel?
Maschinen, die Denkoperationen beherrschen – und Menschen, über deren Dasein diese Maschinen zunehmend gebieten, das ist der Zustand der sogenannten zivilisierten Welt im 21. Jahrhundert. DER SCHREI erzählt von der Hybris der Wissenschaft, die, unbeschadet aller Segnungen, auch eine neue Büchse der Pandora geöffnet hat – in Form eines Thrillers.
Bis hin zur aktuellen Debatte um Neurotechnologie, Cyborg und Quantencomputer, der – im Vergleich zu herkömmlichen Maschinen – schier unvorstellbare Rechenkapazitäten besitzt, und außerdem absolute Sicherheit garantiert, weil er nicht zu hacken ist: Eine perfekte Waffe für die, die nach absoluter Macht streben. Das Buch greift damit brandheiße Themen der Gegenwart auf.

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Peter Mussbach

Der Schrei

Film zum Film

Ausgerechnet der Mensch ist unmenschlich.

Thomas Bernhard

Der Schrei

Film zum Film

www.peter-mussbach.de

© 2015 by Peter Mussbach

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Fotos

“Brooklyn Bridge showing painters on suspenders”

© NYC Department of Records

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-3772-8

Konvertierung: www.e-book-erstellung.de

MERRY CHRISTMAS

1

Der Mond stand fahl über mächtigen, zerklüfteten Felsen, die sich – wie aus bleischweren Albträumen aufgeschreckt – drohend aufbäumten, wenn das Scheinwerferlicht über sie hinwegfegte. Frederik stieß ein böse gellendes Lachen aus und gab wie besinnungslos Gas. „Habt wohl Angst, ihr lichtscheues Gesindel“, schrie er über den Schnee dahinpreschend, bremste das Snowmobile aber sofort wieder ab, weil er glaubte, eine Antwort gehört zu haben.

Das Hochgebirgsplateau, auf dem er, den steilen, engkurvigen Pass hinauf, jetzt angekommen war, wirkte wie eine unwirkliche, durchsichtige Landschaft. Hier hätte Kubrick seine Mondlandungen fälschen sollen, nicht in seinen verdammten Filmstudios, dachte er, würgte den Motor ab und schaltete den Scheinwerfer aus. Angespannt blieb er auf seinem Stahlpferd hocken und lauschte – hatte er gerade nicht den Angriffsschrei des Indianers vernommen, so durchdringend, dass er das Wummern seiner brandneuen Maschine glatt übertönt hatte?

Verunsichert blickte er sich um und verlor sich im Anblick der Schnee- und Felsenlandschaft, über die der eisige Wind fegte und ihr ein riesiges Gesicht formte. Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen und glaubte sich tatsächlich auf einer riesigen, leicht geneigten Totenmaske wiederzufinden, die ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte und im Vollmondlicht leuchtete als würde sie sich jeden Moment aufrichten und zu ihm sprechen.

Nervös fingerte er nach seinen Zigaretten und erstarrte, denn mit einem Mal hörte er seinen Verfolger wieder, jetzt deutlich, allerdings noch in der Ferne. Sein wildes Geschrei hallte im Echo der Bergmassive nach. Hektisch drückte er den Anlasserknopf, gab wieder Gas und schoss in engem Bogen die schmalen Serpentinen hinunter der Rothaut entgegen: Diesmal würde ihn der Indianer nicht überrumpeln, dachte er, heute würde er ihn stellen und endgültig vernichten, den Oberkörper in Angriffsstellung tief über die Maschine gebeugt und den Scheinwerferkegel als Laserschwert vor sich. Frederik grinste, er war gewappnet.

Ekstatisch raste er über die eisglatte Passstraße, die wie ein langgezogenes Spiegelbild unter ihm hinweg glitt – Frederik kopfunter . Dort, wo der Wind den Schnee verweht hatte, geriet seine Maschine gefährlich ins Schlingern und richtete sich für Augenblicke auf wie ein scheues Pferd. Dem gab er unerbittlich die Sporen und jagte durch die mondfahle Wüstenei.

Wieder dieser höllische Kopfschmerz! „Durchhalten“, jaulte er auf und spannte jeden Muskel an, den Kopf im Nacken, die scharf geschnittene Nase witternd in der Luft. Seine langen schwarzen Haare wirbelten im Nachtwind und seine Augen - stahlblau wie Lapislazuli – funkelten angriffslustig . Mit trotzig aufgeworfenen Lippen starrte er vor sich hin – seinetwegen konnte der Azteke jetzt kommen.

2

„Was ist mit dir? Du bist auf einmal ganz bleich um die Nase … du schwankst ja! Komm, setz dich, ich helf dir!“

„Es geht schon Marc, bitte …!“

Mit einer eher beiläufigen, aber unmissverständlichen Geste, die den abweisenden Tonfall unterstrich, entzog sich Mrs Miller ihrem Ehemann und trat, sich demonstrativ abwendend, zur Seite. Und Miller hielt wie auf Kommando inne, ließ die Arme zu Boden sinken und spielte einen Moment lang verlegen an der Applikatur seiner Frackhose.

„Das Fieber hat dir zugesetzt, Nathalie, ich wollte dir bloß helfen“, murmelte er und sah sie irritiert an.

„Ich hatte gerade das zweite Gesicht , mein Gott, Frederik ist etwas zugestoßen“, erwiderte sie wie um sich zu entschuldigen, strich sich durchs Haar und tupfte sich mit einem feinen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Das Taschentuch trug sie in letzter Zeit immer bei sich, zusammengeballt in der rechten Hand, das sollte helfen, ihre plötzlichen Hustenanfälle zu ersticken. Entsetzen blitzte aus ihren graugrünen Augen, ihre Hand zitterte.

„Du und dein zweites Gesicht !“

„Frederik ist etwas zugestoßen, oben in den Bergen!“, insistierte Nathalie. „Du musst sofort Hilfe holen!“

„Beruhige dich, du bist ja völlig überspannt!“

Miller platzte der Kragen, ganz aus dem Stand heraus und ohne irgendwelche Vorzeichen. Mit puterrotem Kopf, der im Kerzenlicht der ausladenden Wohnhalle wie eine No -Maske wirkte, versuchte er zwar noch an sich zu halten, presste seine Lippen aufeinander, als wolle er Trompete blasen, und wippte dabei hin und her, aber das alles half ihm nichts: „Ich halte das nicht mehr aus, Nathalie, es reicht, hörst du!“, brach es aus ihm heraus.

„Ich fleh dich an, Marc, so tu doch was!“

„Erinnerst du dich, vor zwei Jahren, da standen wir auch schon vor unserem Weihnachtsbaum und warteten auf Frederik, der in der Dunkelheit auf seinem Snowmobile unterwegs war und ewig nicht zurückkam? Und du warst in hellster Aufregung. Diese Idée fixe verfolgt dich schon seit Jahren, deine Ängste haben sich verselbstständigt, du bist wahnhaft, und das mittlerweile chronisch. Wenn es nach deinen schwarzen Gedanken ginge, wäre Frederik längst unter der Erde.“

„Hier in den Bergen gerät er zuweilen völlig außer sich und verliert die Kontrolle. Einmal hat er mich auf seinem Mobile mitgenommen, nie mehr wieder, das sag ich dir! Er ist völlig ausgerastet und panikartig von der fahrenden Maschine gesprungen. Gott sei Dank waren wir nicht so schnell, das Ding hat von allein angehalten, es ist in einer Schneewechte stecken geblieben. Mir ist nichts passiert, wie durch ein Wunder … Ich ruf da jetzt an, warte einen Augenblick!“

„Du machst uns lächerlich“, seufzte Miller, als Nathalie vom Telefonat zurückkam. Krachend warf er sich in einen Sessel aus lichtweißem Leder und Aluminiumgestell, das seinem Gewicht gerade noch standhielt, und goss sich kopfschüttelnd Scotch und dann Soda ein, wobei sich das Zischen der Kohlensäure wie zwergenhaftes Gekicher über ihn lustig zu machen schien, was ihn dazu veranlasste, mit der Faust unwirsch auf die Glasplatte zu schlagen. Nathalie nahm auf einem ihm direkt gegenüber stehenden Holzstuhl aus Mahagoni Platz und machte ein Gesicht, als sage sie Garde ! Und Miller, der gerade seinen Whisky Soda ex getrunken hatte, ließ irritiert das Glas in der Luft stehen und starrte sie an.

„Weihnachten vor zwei Jahren, gleich nach Frederiks erstem großen Konzert, seinem Durchbruch zur Weltkarriere, hab ich Angst bekommen um ihn, Ikarus ist auch abgestürzt; weil er der Sonne zu nahe kam, hat er die Götter herausgefordert.“

„So lass doch die Götter sein! Frederik wollte nur sein neues Snowmobile ausprobieren und ist losgefahren, als du noch im Bad warst. Lass ihm diese Momente, ich bitte dich! Die letzten Monate waren wirklich nicht leicht für ihn …“

Miller stemmte sich unvermittelt aus dem Sessel und kam auf Nathalie zu. Er zögerte, blieb schließlich direkt vor ihr stehen und blinzelte unsicher. „Komm, lass dir einen Kuss geben“, sagte er endlich kaum hörbar. „Die Rettung ist unterwegs, du wirst sehen, bald steht dein Sohn gesund und glücklich vor dir“, Miller wippte auf den Zehen und schaute hilflos auf seine Frau, die ins Kaminfeuer starrte und fahrig ihre langen Haare durch Daumen und Zeigefinger gleiten ließ.

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