Peter Lenzyn - Im grünen Raum von Saint-Leu

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Was kann eine Welle aus Dir machen? Der scheinbar namenlose Ich-Erzähler, Fotograf für die Pariser Hochglanzpresse, ist als solcher Augenzeuge eines der berüchtigtsten Unfälle des 20. Jahrhunderts geworden. Im Alma-Tunnel hat er die sterbende Prinzessin im Autowrack gesehen. Um der anschließenden Hetze auf die Paparazzi zu entgehen, kehrt er zurück nach La Réunion, jene französische Insel im Indischen Ozean, auf der er einige Jugendjahre verbrachte. Hier hat er damals das Surfen erlernt; die Wellen zu lesen, sich ihnen hinzugeben, sie zu beherrschen. Auf sich selbst zurückgeworfen, taucht der Protagonist ein in seine Vergangenheit, erzählt vom Surfen als Weltanschauung, von Anpassung und der Suche nach einem eigenen Weg, von Voyeurismus und dem Fotografieren als Kunst.

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Peter Lenzyn

Im grünen Raum von Saint-Leu

Roman

mitteldeutscher verlag

Inhalt

Cover

Titel Peter Lenzyn Im grünen Raum von Saint-Leu Roman mitteldeutscher verlag

1

2

3

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6

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8

9

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11

Dank

Impressum

1

Hélène ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Du hast ja Blut an den Händen.“

„Es ist meins.“

„Wieso sagst du das? Von wem soll es sonst sein?“

„Hélène, ich muss für einige Zeit verschwinden.“

„Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht alles, ich bin ziemlich schnell abgehauen.“

Ich machte das Radio an und hoffte auf Nachrichten. Aber es kam bloß Musik. Ich nahm den großen Rucksack und begann zu packen.

„Wo willst du hin?“, fragte Hélène.

„Zurück nach La Réunion.“

„Das ist weit weg.“

„Deshalb ja.“

„Ich werde dich nicht sehen.“

Ich zögerte mit der Antwort. „Vielleicht ist das gut so.“

„Für dich vielleicht.“

„Auch für dich.“

Im Radio kamen die Nachrichten. Ich setzte mich zu Hélène aufs Bett und hörte zu.

Verschiedene Augenzeugen kamen zu Wort und rekonstruierten den Hergang. Sie sagten, der Unfall wäre im Alma-Tunnel geschehen, der Mercedes hätte einen Pfeiler gerammt, wäre außer Kontrolle geraten; er hätte die Mauer am rechten Tunnelrand berührt und sich dann mehrfach überschlagen. Der Liebhaber und der Fahrer sollten sofort tot gewesen sein, der Leibwächter in einem Krankenhaus um sein Leben ringen … und die Prinzessin: sie wurde leblos im Heck gefunden, konnte aber wiederbelebt werden – das jedenfalls behauptete jemand.

Hélène schaute mich mit geweiteten Augen an.

„Ich konnte sie im Wrack sehen“, sagte ich, „sie lebte noch, sie schaute einen von uns an, sie nahm seine Hand und fragte ‚Was ist geschehen?‘“

„Hast du ihr geholfen?“

„Jemand anderes war bei ihr. Er sagte ‚Bleiben Sie ruhig, es war ein Unfall. Alles wird gut.‘ Ein Lichtstrahl wanderte über ihr Gesicht: Es war wirklich die Prinzessin.“

„Was hast du gemacht?“

„Ich stand einfach da.“

„Hast du Fotos gemacht?“

„Ich bin abgehauen.“

„Du hättest ihr helfen müssen.“

„Es gab andere. Ein Arzt war sofort da.“

„Haben die anderen Fotos gemacht?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und vorher? Hast du vorher Fotos gemacht?“

„Ja, natürlich, aber das ist meine Arbeit.“

„Weiß James davon?“

„Bestimmt wird er es längst erfahren haben. Alle wissen es.“

Es kamen erneut Nachrichten. Die Prinzessin war in einer Klinik auf dem linken Seine-Ufer. Nach Angaben der Ärzte litt sie unter einem schweren Schock, einer ernsthaften Verletzung der linken Herzkammer, inneren Blutungen und mehreren Knochenbrüchen.

Ich hatte das Notwendigste in den Rucksack gestopft und zog meine Lederjacke an. „Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. Ich gebe dir meine neue Adresse durch, meine neue Telefonnummer.“

„Jetzt stiehlst du dich wirklich davon. Einfach so. Das ist doch aus einem anderen Grund. Das ist doch wegen Rambouillet.“

„Aber ich … du …“

„Wegen Rambouillet!“

„Wovon redest du?“

Hélène schüttelte den Kopf. „Du musst nicht gehen. Du hast nichts gemacht.“

„Das wird nicht jeder so sehen.“

„Das ist doch wirklich dein Blut, oder?“

„Ja.“

„Versprichst du mir das?“

„Ja.“

„Dann bleib hier!“

„Ich melde mich, wenn ich angekommen bin.“

Am Flughafen Charles de Gaulle erfuhr ich, dass die Prinzessin tot sei. Die Kriminalpolizei war eingeschaltet worden, die ersten Ermittlungen wurden aufgenommen, sieben Fotografen wurden in Gewahrsam genommen, nach zwei weiteren wurde gefahndet. Es ging um die Frage, ob der Fahrer des Mercedes von den Fotografen bedrängt wurde; auch hätten die Fotografen an der Unfallstelle fotografiert, statt Erste Hilfe zu leisten oder Hilfe zu rufen.

Ich überlegte, mich der Polizei zu stellen.

2

Ich habe im Alter von zehn bis vierzehn – also fast fünf Jahre – auf La Réunion gelebt. Wir hatten dort einen Nachbarn, über den ich sagen konnte, dass er – wann immer ich ihn sah – rauchte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, er blies und pustete Wolken in alle Richtungen, ich habe ihn nur einmal ohne Zigarette gesehen, das war, als er mich in seinem Helikopter mitnahm und mir La Réunion aus der Luft zeigte.

Er zeigte mir La Réunion, als ich vierzehn war und die Insel wieder verlassen wollte. Er tat das, weil er mich dazu bringen wollte, zu bleiben. Denn mit mir würde auch meine Mutter bleiben.

Ich hatte meiner Mutter gesagt, was ich von unserem Nachbarn und seinen vielen Zigaretten hielt. Der Gedanke, dass so einer den Platz meines Vaters einnähme, machte den Tod meines Vaters noch viel schlimmer.

Unser Nachbar war ein kleiner Mann, dessen dicker Bauch über der Gürtelschnalle hing; sein Gesicht leuchtete puterrot unter blondweißen Haaren; er trug eine Brille mit Gläsern, die sich abhängig von der Sonneneinstrahlung verdunkelten. Hinter diesen Gläsern wirkten seine Augen, als wären sie voller zu versteckender Geheimnisse. Er sprach recht offen über seine nicht funktionierende Ehe und seine beiden missratenen Kinder. „Sie haben mich sehr enttäuscht“, sagte er immer.

„Du kriegst meine Mutter nicht.“

Ich brachte meine Abneigung gegen unseren Nachbarn ziemlich unverhohlen zum Ausdruck. Er ließ aber trotzdem nicht davon ab, mich für sich gewinnen zu wollen.

Mit seinem Helikopter landete er in unserem Garten und wehte dabei zwei Plastikstühle in den Pool. „Willst du den Piton de la Fournaise sehen?“, fragte er mich, als ich eingestiegen war. Einige Minuten später flogen wir einen Kreis durch den dampfenden Krater des Piton de la Fournaise. „Willst du das Trou de Fer sehen?“ – und gleich darauf flogen wir eine Acht durch das Trou de Fer mit den drei Wasserfällen und den im Wassernebel leuchtenden Regenbögen. Wir flogen vom Cirque de Salazie in den Cirque de Cilaos und weiter in den Cirque de Mafate – über Dörfer, die auf hohen, von der Sonne angestrahlten Bergplateaus angesiedelt waren und von denen sich silbrig glänzende Serpentinenwege in alle Richtungen wegschlängelten; durch tiefe, dicht bewaldete, von Fledermausschwärmen bevölkerte Schluchten – und über hohe, kahle Bergspitzen oberhalb der Wolkendecke. Wir flogen die springend herabkommenden Bergflüsse hinauf; über sattgrüne Zuckerrohrfelder hinweg und entlang der Strände der Hermitage; das türkise Wasser der Lagune und – weit draußen – die weiße Schaumlinie der auf das Riff schlagenden Wellen.

Unser Nachbar flog mich wieder zurück, landete bei uns im Garten, sagte: „Du musst eine sehr wichtige Entscheidung treffen, ich hoffe, du triffst sie richtig“, hob mit seinem Helikopter ab und flog zum Golfplatz du Bassin Bleu, wo er sich für den Nachmittag für achtzehn Löcher verabredet hatte.

Meine Mutter redete auf mich ein. „Er bietet uns Garantien, finanzielle Sicherheit.“

„Das ist mir egal.“

„Wir können hierbleiben.“

„Das geht auch ohne den.“

„Das geht nicht, das musst du verstehen.“

Ich schüttelte angewidert den Kopf.

„Gut“, sagte sie, „ich hoffe, du wirst es nicht bereuen.“

Ich wusste nicht, wie schwer es nach den Jahren in La Réunion sein würde, sich an eine Welt zu gewöhnen, die kein Meer hat und in der es nicht das ganze Jahr hindurch warm ist. Und weil ich es nicht wusste, sagte ich: „Dann gehen wir wieder nach Paris.“

„Ich will nur, dass du glücklich bist“, sagte meine Mutter.

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