Die Zitate an den Kapitelanfängen entstammen dem Parabelstück »Der gute Mensch von Sezuan« von Bertolt Brecht.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlag Berlin und der Bertolt-Brecht-Erben.
© 2017 Carpathia Verlag GmbH, Berlin
Umschlagillustration: Katja Bröskamp, www.katja.broeskamp.net
ISBN 978-3-943709-15-5 (Print)
ISBN 978-3-943709-16-2 (EPUB)
ISBN 978-3-943709-17-9 (MOBI)
ISBN 978-3-943709-18-6 (PDF)
www.carpathia-verlag.de
Für Ursula
Der Morgen dämmerte über der Bucht von Dakar. Sie lag mit schmerzenden Gliedern in einer kleinen Fischerhütte und starrte an die Decke. Im Nebenraum hörte sie das Schnarchen und Röcheln ihrer Peiniger. Es war leichtsinnig von ihnen, denn sie hätte sich an ihnen rächen können. Hätte sie? Wenn sie sich auf den einen gestürzt hätte, wäre der andere erwacht und sie hätten von vorne begonnen – oder sie vielleicht gleich umgebracht. Und selbst, wenn es ihr gelungen wäre, einen oder sogar beide zu töten, was dann? Was hätte Rashid dann getan? Rashid ging es nur ums Geld. Allen Schleppern ging es nur ums Geld. Sie kroch mühsam zur Tür und sah hinaus auf die Bucht, nach Süden zur ehemaligen Sklaveninsel Gorée. Sie kannte die Geschichte der Sklaveninsel, wie sie die ganze Geschichte Afrikas kannte. So konnte lesen, schreiben und rechnen, war eine ausgebildete Krankenschwester, und würde sie in Europa leben, würde sie jetzt an irgendeiner Universität Medizin studieren. Sie war so nahe drangewesen. Die Erinnerung an Schwester Martha stieg wieder hoch und ihre Augen füllten sich mit Wasser.
Sie war jetzt 22 und ihr halbes Leben hatte sie bei der beeindruckenden Nonne mit den grauen Haaren und dem strengen Dutt verbracht, in der kleinen Missionsstation, rund 20 Kilometer westlich von Garoua. Sie hatte nicht immer in Kamerun gelebt, doch von der Zeit davor wusste sie kaum noch etwas. Ihre Eltern hatten in den Coltan-Minen in Kivu gearbeitet, im Osten des Kongos, genau wie sie selbst und ihr kleiner Bruder Joseph, der damals noch Kambale hieß.
Doch dann waren ihre Eltern gestorben. Ihre Cousine und ihr Mann hatten die beiden Kinder mitgenommen auf ihrer Flucht vor der Miliz und sie schließlich in der Obhut von Schwester Martha gelassen. Schwester Martha hatte ihnen auch die neuen Namen gegeben. Nichts sollte sie mehr an früher erinnern.
Für sie tat sich damals eine völlig neue Welt auf. Sie durfte endlich lernen. Schwester Martha brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Und kaum konnte sie lesen, begann sie Bücher förmlich zu verschlingen. Bald bestürmte sie die Nonne, ihr Bücher aus der Bibliothek von Garoua zu besorgen. Alles sog sie in sich auf. Schwester Martha kam aus Wien, und so lernte sie nicht nur Französisch, sondern auch Deutsch. Und auch in medizinischen Dingen bewies sie großes Talent. Nach wenigen Jahren war sie in der Missionsstation unentbehrlich geworden.
Doch dann zerbrach ihre Welt. Sie war in Garoua gewesen, um sich aus der Bibliothek neue Bücher zu besorgen. Als sie zurückkam, lag die Missionsstation in rauchenden Trümmern. Ihren Bruder fand sie unter anderen schrecklich zugerichteten Leichen. Schwester Martha war gefoltert worden, ehe die Terroristen sie umgebracht hatten.
Sie stand in dem zerstörten Büro. Alle Gefühle schienen wie abgestorben zu sein. Das Leben, das Lernen, die Medizin … alles hatte seinen Sinn verloren.
Sie beugte sich über die tote Nonne und nahm ihr wie mechanisch das blutverschmierte Brustkreuz ab. Irgendetwas sagte ihr, dass sie dieses Kreuz in das Mutterhaus von Schwester Martha bringen sollte. Das, so war sie überzeugt, war die letzte und einzige Aufgabe, die ihr das Leben noch zugedacht hatte. Doch wie sollte sie nach Wien kommen?
Das Schicksal hatte sie nach einigen Wochen bis nach Dakar im Senegal gespült und mit einem Schlepper namens Rashid zusammengebracht. Der brachte sie in einer Fischerhütte an der Bucht von Dakar unter. Einen Tag später kamen John und Stuart, zwei bullige junge Männer aus Ghana hinzu. Tags darauf sollte die große Reise beginnen, die bestenfalls erst in Europa zu Ende gehen sollte. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, das wusste Iris, waren nicht besonders hoch.
Am Abend betranken sich die beiden. Sie hatten schon kurz nach ihrer Ankunft anzügliche Bemerkungen gemacht. Doch Iris hatte die Hoffnung, dass die beiden bald betrunken einschliefen. Stattdessen schlief sie ein.
Sie wurde derbe geweckt, als eine starke Hand sie herumriss und sich ein schwerer, nach billigem Fusel stinkender Körper auf sie warf. Es war Stuart. Sie wollte sich wehren, doch sein Kumpel John hielt ihre Arme fest. Stuart vergewaltigte sie brutal und immer und immer wieder. John hätte es wohl auch versucht, doch der schien dafür inzwischen viel zu betrunken. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ Stuart von ihr ab und die beiden verschwanden im Nebenraum.
Und nun lehnte sie am Türrahmen der Fischerhütte am Strand von Dakar, verletzt, beschmutzt, zerschlagen.
Und schlagartig wurde ihr klar, dass sie sich rächen würde, dass Stuart zahlen würde, und sie wusste auch genau, wie sie es anstellen würde.
Sie brauchen jemand.
Wie könnte man da nein sagen?
Die Stewardess tippte ihm leicht auf die Schulter. Mansur Ghali schreckte auf. Ein Teil seiner Unterlagen, die ihm beim Einnicken auf den Schoß geglitten waren, rutschte nun auf den Boden der Kabine. Er wollte sich danach bücken, doch die junge Frau war schneller. Sie raffte die Blätter zusammen und stieß sie auf dem Tischchen zurecht. »Entschuldigen Sie, Mister Ghali«, sagte sie, »aber wir landen in fünf Minuten in Berlin-Schönefeld. Würden Sie sich bitte anschnallen?«
Mansur brummte etwas, das mit gutem Willen als »Danke« durchgehen konnte und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Er hatte gerade von daheim geträumt, von Ägypten und wie er auf einem weißen Pferd auf eine Oase zuritt. Dabei konnte er gar nicht reiten und hatte auch für Pferde nicht viel übrig, noch weniger für Kamele, es sei denn sie waren entsprechend zubereitet, etwa als Lendensteak mit Schokoladensoße. Er bekam Hunger. Nun bereute er, dass er den angebotenen Lunch ausgeschlagen hatte.
Mansur saß alleine in der Kabine seiner Gulfstream G650, einem Businessjet, der bis zu 8 Passagieren Platz bot und mit dem er nonstop um die halbe Welt fliegen konnte. Der Flieger war weniger Luxus als dringende Notwendigkeit. Mit ihm reiste er in seine Städte. Andere Unternehmer mochten Häuser, Fabriken oder Wohnviertel bauen. Mansur baute am liebsten Städte – schlüsselfertig. Das Konzept war denkbar einfach, aber ausgesprochen effektiv: Man baue ein paar Hotels in traumhafter Lage und dazu ein paar käuflich zu erwerbende Immobilien. Das Ganze garniere man mit der notwendigen Infrastruktur, etwa einem Krankenhaus und einer Schule. Warum eine Schule? Weil die Kinder der Angestellten, die natürlich auch alle in der Stadt lebten, eine vernünftige Ausbildung erhalten sollten.
Vor 25 Jahren hatte er damit an der Küste des Roten Meeres begonnen. El Quays hieß die Stadt, in der nun 25 000 Menschen lebten, mehrere Universitäten einen Ableger errichtet hatten, ein Weingut alte, längst vergessene ägyptische Rebsorten neu züchtete, und deren Hotels zu den angenehmsten Anlagen des ganzen Landes gehörten. Häufig hatten die Touristen gar keine Ahnung, was sich alles in dieser Stadt verbarg, die doch scheinbar nur gebaut worden war, um es den Gästen so angenehm wie möglich zu machen. In gewisser Weise stimmte das auch, doch längst hatte die Stadt ein Eigenleben entwickelt. Mansur hatte in fünf Jahren einen Fußballclub aufgebaut, der inzwischen in der ersten Liga Ägyptens spielte, und dem Verein ein Stadion errichtet, das 15 000 Menschen Platz bot. Die »Quaysis«, die Einwohner von El Quays, liebten ihn dafür. Und das machte Mansur wiederum stolz. Die Leute identifizierten sich mit ihrer Stadt. Das war ihm wichtig, mochten auch andere über die »Kunststadt« oder das »ägyptische Disneyland« lästern – er hatte Tausenden von Menschen eine neue Heimat geschaffen. Und er verdiente viel Geld damit.
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