So war der Wetzlarer Sommer auch ideell die natürliche Fortsetzung des Frankfurter Winters, und die Fäden, die beide Zeiten zusammenknüpfen, sind unzerreißbar. Aber es war von Bedeutung, daß Goethe aus dem volleren Strome des Außenlebens in stillere Zustände und in die Möglichkeit strengerer Sammlung und Vertiefung überging. Ja man kann sagen, daß er auch die geistige Atmosphäre, die seinem »Werther« Hintergrund und Stimmung gibt, von Frankfurt nach Wetzlar mitbrachte. In Wetzlar herrschte durchaus eine andere Temperatur, als in Darmstadt-Homburg, wo weibliche Elemente den Ton angaben. Dort war diese weiche, dämmernde, weltschmerzliche, marklose Art zuhause, dieses Lächeln unter Thränen, dieses kränkelnde Schwelgen in verstiegenen Gefühlen. Auch Goethe wurde von der sentimentalen Modekrankheit stark berührt. War er doch mit krankem Herzen aus dem Elsaß und von seiner tiefsten, schuldvoll abgebrochenen Jugendliebe heimgekehrt, und diesem Herzen that die Krankenstubenluft, in der sich so anmutige Pflegerinnen bewegten, ganz wohl. Blieb doch selbst der mannhafte, verstandesscharfe, aber im eigenen Hause nicht glücklich befriedigte Merck nicht frei von der Influenza der Zeit, die gerade in Darmstadt der zweideutige Leuchsenring großziehen half. Bei Goethe schlossen sich diese pathologischen Anwandlungen an die tieferen religiösen Stimmungen, wie sie von der Klettenberg, auch jetzt wieder des Dichters origineller Seelsorgerin, geweckt und genährt wurden. Das innerste Leben Goethes wurde von dieser eigenartigen Mystik getroffen, die in Grundtrieben seiner angeborenen Natur Anschlußpunkte genug fand, und so bildete sich aus Erlebtem und Erlerntem, aus Alchimie und Mystik, aus spekulativen Einzelanstößen und selbstherrlicher Phantasie jenes elementare Chaos, aus dem nur das gestaltende Schaffen den Ausweg finden mochte. Es sind die Elemente und Voraussetzungen, denen die Faustidee, deren erstes Regen der nämlichen Zeit angehört, zum Leben verhalf. Zu den Voraussetzungen gehört aber neben dem dämonischen Universalismus und der Vertiefung in die Geheimnisse alles Lebens die tragische Idylle von Sessenheim und das nach Entlastung verlangende Schuldgefühl, dem die poetische Befreiung näher lag und leichter fiel als die ethische.—
Wenn wir schon in dieser Frühzeit auf das Höchste der Goetheschen Poesie, wenn auch als ein embryonisch werdendes, hinweisen dürfen, so sagt dieser Hinweis genug, welchen Vorsprung schon der Genius vor der gleichzeitigen Litteratur gewonnen hatte. Aber eben dieses Unterscheidende erinnert uns auch daran, daß Goethe sich von der Quintessenz alles Lebenskräftigen, was die deutsche Dichtung der Zeit ihm zutragen konnte, hatte berühren und befruchten lassen: von dem hohen Flug des Odensängers, von Lessings dramatischer Dialektik, von Wielands weltmännischer Eleganz. Aber auch die Emanzipation von diesem Triumvirat, die erst dem Eigenen vollen Raum schafft, beginnt in diesem und den nächsten Folgejahren. Unmittelbar vor der Wetzlarer Reise war »Emilia Galotti« erschienen. Dem tieftragischen Stoff sieht Goethe des Dichters korrekte Geistesklarheit doch nicht völlig gewachsen. Er erklärt das Stück, »so ein Meisterstück es sonst sei«, für »nur gedacht«. Dem Messias-Dichter sagt er allerdings erst 1776 ab und aus Gründen, die nicht in poetischen, sondern in realen Differenzen liegen. Aber im litterarischen Gegensatz bewegte er sich längst, und in gewissem Sinne, wenn auch völlig absichtslos, ist sein Faust ein Anti-Messias. Der Widerspruch gegen Wieland trat wenige Jahre darauf in »Götter, Helden und Wieland« scharf zutage.
Herder aber, nicht selbst Dichter, doch in ahnungsvoller Theorie jene Trias überragend, bildete ein Zwischenglied zwischen dieser und dem Dichter der Zukunft, den er prophetisch vorverkündigte. Es war darum nur natürlich, daß Goethe diesen übermochte, sobald er dessen Programm durch seine Schöpfungen zu That und Leben geführt hatte.
Noch vor wenig Jahrzehnten trug das äußere Bild Wetzlars in Stadt und Land ein Gepräge, das uns leichter denn das gegenwärtige an den Zustand der reichsstädtischen und Goetheschen Zeit erinnern konnte. Noch bestand das stille Naturbild des anmutigen Lahnthales unverwandelt und unaufgeregt von den modernen Errungenschaften seines eisernen Zeitalters, den Eisengruben, den Eisenwerken mit ihren Hochöfen und den sich kreuzenden Eisenstraßen; noch war das Innere der Stadt fast getreu geblieben dem längst vergangenen Zustand, denn größeren Konservatismus, oder soll ich sagen größere Stabilität und Stagnation als hier gab es damals kaum anderswo in deutschen Landen. Das Lokal hatte sich mit geringen Änderungen erhalten; man brauchte darum die andersartigen Zustände der Goethe-Werther-Periode, das Reichskammergericht und das Leben der Reichsstadt dem Gebliebenen nur gleichsam einzuzeichnen, um das Jetzt dem Einst völlig ähnlich zu machen. Das ist heute anders geworden. Damals trat der Grundton der Landschaft, das Ineinander von Natur und Geschichte um so reiner und stärker hervor. Ein breites, wiesengeschmücktes Flußthal, sanfte Hügelrücken, unten mit Korn, oben mit Wald bedeckt, überragt von einzelnen charakteristisch geformten, stolzeren Bergen, von denen der Dünsberg und die Basaltkuppe des Stoppelberges zur rechten und zur linken als die Herrscher des Thales sich emporstrecken; der sich in schönen Windungen hinziehende Fluß und, in die Lahn einmündend, die Dill, die den Blick in ein still-anmutiges Seitenthal öffnet, das auch nicht ohne historische Bezüge und Ehren ist. Ersteigt man den Lahnberg auf der linken Flußseite, der einen alten Wartturm wie ein Luginsland auf seiner Höhe trägt und in Goethes Leben wie in Werthers Leiden eine Rolle spielt, so tritt das stimmungsvolle dieser Landschaft alsbald vor das Auge. Nichts in der weiten Umschau imponiert dergestalt, daß es Blick und Sinn gefangen nähme und durch überwältigenden Eindruck dem Sinnen und Träumen keinen Raum ließe, vielmehr schmiegt sich das Äußere dem Inneren weckend und stimmend an; ahnungsvolle Sehnsucht, leise Melancholie, stilles Wohlgefühl finden ihr Echo. Es ist eine tiefpoetische Landschaft und eben darum eine Landschaft für Poeten, von welcher der sinnige Betrachter das Recht von Goethes Lobwort im »Werther«: »ringsumher ist eine unaussprechliche Schönheit der Natur«, und das Wort von den »täuschenden Geistern, die um diese Gegend schweben« gar bald versteht. Das weite Lahnthal schneiden engere Querthäler, darunter das der Wetz, die der Stadt den Namen gab, das bedeutendste. In dieser vielgestaltigen Terrainbildung liegt der Charakter der Landschaft. Nicht viele Gegenden Mitteldeutschlands mögen so reich an Variationen sein wie diese. Hat doch ein besonders bewanderter Kenner des Thales neunzig Spaziergänge mit stets veränderten Aussichtsbildern verzeichnet. Das am meisten Charakteristische ist eben die Verbindung freier Fernsichten mit der knappsten Enge malerischer Nahesichten. Auch die wetterauische Fruchtbarkeit des Thales, die Obstwälder ringsum, die heitere Gartenumgebung gehören zu dem anmutenden Landschaftsbild. Nur die Reben, die vergangene Jahrhunderte, minder anspruchsvoll in ihren Genüssen, auch hier vielfach gepflegt hatten, sind heute so gut wie verschwunden.
Und dieser fesselnde Naturreichtum ist verwachsen mit der Mannigfaltigkeit des historischen Lebens, das überall seine Spuren, seine Reliquien diesem Boden eingedrückt hat. Ja, ein geschichtlich gesättigter Boden überall, wo Römertum und Mittelalter sich in dem Volksglauben wenigstens — und sollte es zum Teil Aberglaube sein — die Hand reichen. Lag doch die Stätte des späteren »Wetafalar« innerhalb des altrömischen Pfahlgrabens. Die der Stadt unmittelbar gegenüber gelegene malerische Burg Kalsmunt führt der Stolz der Bürger, wenn auch mit sehr zweifelhaftem Recht, auf römischen Ursprung zurück; um die Wälder des fernen Dünsberges spielen Sagen von germanisch-römischen Kämpfen. Überall in den Buchen- und Eichenwäldern zerstreut liegen keltische und altdeutsche Grabhügel. Vor allem doch hat die gestaltenreiche und wechselvolle Geschichte des Mittelalters ihre Spuren hinterlassen. Die großen Formen des mittelalterlichen Lebens leben und lebten vollends zu Goethes Zeit ringsum fort. Die Schlösser der kleinen Dynasten krönen die Berggipfel; so Hohensolms und Greifenstein in tiefer Waldeinsamkeit; so das malerische Braunfels, noch heute der stolze Sitz des Fürsten; so Ritterburgen, wie Hermannstein; auf den ferneren Höhen Fetzberg und Gleiberg bei Gießen; so Mönchs- und Nonnenklöster, damals ihrer ersten Bestimmung noch nicht entzogen, unter ihnen vor allem das weithin winkende Prämonstratenser-Frauenkloster Altenberg, die Gründung der heiligen Elisabeth. Und damit nichts fehle von den charakteristischen Reliquien des Mittelalters, so lag um die Stadt mannigfacher Besitz des Deutschordens mit einem Deutschordenshaus innerhalb der Stadtmauern; — für den Goethefreund der wichtigste Punkt Wetzlars.
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