Man muß sagen: sowohl die Gründe, die dasselbe nötig gemacht, wie das Geschäft selbst, führten nach wenigen Jahren in immer weiteren Kreisen zu einer bedenklichen Diskreditierung des ganzen Instituts. Das kaiserliche Edikt hatte Großes angekündigt, hohe Erwartungen rege gemacht, alle Welt hatte den Kaiser, diesen Hort der Gerechtigkeit, gepriesen, und von der Wiedergeburt jenes »Palladiums der deutschen Freiheit« goldne Tage geordneter Rechtszustände erwartet. Und nun um so ärgere Enttäuschung! Die Schäden lagen aufgedeckt, der Glaube versagte, daß die Heilung für die Zukunft gefunden sei. Die stärkeren Freiheitsregungen der nächstfolgenden Zeit übten auch an dem ehrwürdigen Tribunal ihre rückhaltlose Kritik. »Das Kammergericht, sagte eine Broschüre von 1787, dieser Sitz der Parteilichkeit, der Bestechung, der Schikane, der endlosen Vorenthaltung des Rechts, wird noch immer für das Palladium der deutschen Freiheit gehalten. Man sehe, wie bemittelte Personen eilen, nach Wetzlar zu kommen, ihren Sachen Aufenthalt oder Wendung zu verschaffen; wie die Parteien laufen, vom Referenten zu erfahren, wie alt Streitigkeiten geworden sind. Die einzige Regel des Rechts, die in Wetzlar gilt, ist: beati possidentes.« — Es ist charakteristisch, daß dieselbe Schrift, die sich gegen das alte Reichsinstitut richtet, noch weiter geht und die Frage, ob auch die Wahl eines Reichsoberhauptes noch zweckdienlich, ob der Reichsverband überhaupt haltbar sei, prüft und mit einem runden Nein beantwortet.
Solche Stimmungen wagten sich zu Goethes Zeit noch nicht hervor, die Keime aber auch dazu waren genugsam vorhanden. Auch in Goethes Freundeskreis, wenn sie auch dort über die Linie der Ironie oder der Gleichgültigkeit kaum hinausgingen. Wir werden hierauf zurückkommen. Von Goethe selbst könnte man voraussetzen, daß er als Dichter an dem Labyrinthischen des Reichsprozesses mit dem grauen Hintergrund und Halbdunkel althistorischer Entwickelung eine Art romantischen Interesses genommen hätte, wie denn nach eigener Versicherung (wie wir oben sahen) »Götz« und das Kammergericht nach Idee und Ursprung sich vielfach in ihm berührten.
Allein jene Romantik übertrug sich ihm doch nicht auf die Wirklichkeit. Goethes Wesen drang auf Klarheit, Einfachheit, Durchsichtigkeit und Übersichtlichkeit, auf plastische Faßbarkeit. Das mephistophelische Verdikt über die sich forterbende Krankheit von Gesetz und Rechten, so wie das »garstige, politische Lied« vom »lieben heiligen Römischen Reich« in Auerbachs Keller gehen gewiß auch auf reichskammergerichtliche Eindrücke zurück und sprechen des Dichters eigenes Bekenntnis aus. Und mit dem Lichtvollen seiner intellektuellen Natur stimmte die ethische Klarheit, die sich von der förmlichen, scheinhaften, alles verschleifenden Rechtspraxis und von den verdrehenden und ausweichenden Fechterstreichen angewidert fühlte. Schon in den Anfängen seiner Frankfurter Advokatur zeigt sich dieser präcise Sinn, das Betonen der Rechtsprinzipien statt der Vorschriften des positiven Rechtes, in dem er wenig heimisch war, aber auch das Geltendmachen rein menschlicher Stimmungen in den Anreden an die Richter. Bestand also wirklich in den Wünschen des Vaters das Projekt, dem Sohne in Wetzlar eventuell eine dauernde Stätte am Reichs-Kammergerichte anzubahnen, so ward der letztere vis-à-vis der wirklichen Verhältnisse um so gründlicher von dieser Idee kuriert.
Schon in seiner Vaterstadt war ihm die Reichsromantik und der Reichszopf verleidet; die Wetzlarer Erfahrungen steigerten diese Stimmung, und der Dichter folgte nur seiner Natur, wenn er drei Jahre später sich von einem kleinen Territorialstaat, in welchem das moderne fortschreitende Leben pulsierte, dauernd fesseln ließ.
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