„Wieso gegangen“, Klaus-Willi schubste mich an, „du musstest getragen werden!“
„Warum?“ Ich war entsetzt.
„Weil du an Deck ausgerutscht bist.“ Er machte eine genüssliche Pause: „Du konntest nicht mehr gehen.“
„Waas?“
„Tja, was soll ich sagen, Lady? Du hattest einen mittelschweren Filmriss, weshalb wir dich in voller Montur zu dritt ins Bett schleppen mussten, alleine hätte ich das nie geschafft.“
Oh Lady Mary!
„Du schaust am besten mal wo du noch ein Blatt herbekommst“, sagte die schöne Derya als sie sich unsere gemeinsame Vorlage in die Tasche steckte, „ich muss jetzt sofort weg.“ Immer wieder stolperte ich über ihre Unverfrorenheit, die mich in die Sprachlosigkeit trieb. Während des Physikunterrichtes hatte Dr. Kivelitz klausurrelevante Niederschriften verteilt, zerstreut wie er war, reichten die Blätter natürlich nicht für alle. Daher sollten sich die Banknachbarn einigen und Kopien machen. Meine Banknachbarin hatte das offensichtlich anders verstanden. Nach den Ferien schien also noch alles beim alten zu sein. Für mich war der soziale Knoten endgültig geplatzt: Ich war integriert. Es war wie früher. Freundschaften, Feindschaften, Cliquen und Liebschaften entstanden, festigten sich oder lösten sich wieder auf. Da waren die „Stillen“, Diana, Olga und Maren, die sich nur untereinander verständigten. Sie sprachen weder mit uns, noch leisteten sie irgendeinen mündlichen Beitrag zum Unterricht. Ebenso merkwürdig war ein stets in schwarz gekleidetes Pärchen, das nur miteinander wisperte. Sie hielten sich so dicht aneinander, dass der Eindruck entstand, sie seien am Arm zusammengewachsen. Wir wussten noch nicht einmal ihre Vornamen. Das Mädchen brachte Herrn Trepkow im Englischunterricht zur Verzweiflung, weil sie seiner Meinung nach, das „Th“ nicht in den Griff bekam. „Drehen sie doch ihre Zunge mal nach hinten, hinter die Zähne, tho etwa“, demonstrierte er mit offenem Mund und zeigte seine gerollte Zunge, „tho itht eth richtig!“ Die Ärmste musste diese Übung wieder und wieder nachmachen, bis unser Papa T., wie wir ihn mittlerweile nannten, zufrieden war. Er hatte sehr lange in Oxford gelebt.
Im Soziologie Unterricht bei Herrn Dr. Moldenhauer, 68er wie Frau Frenken, nun ergraut und auf den Posten des Schulleiters hoffend, saß ich inmitten der südamerikanischen Abteilung. Elvira und Teresa sprachen portugiesisch und spanisch, denn sie stammten nicht aus dem gleichen Land. Demokratisch einigten sie sich auf Spanisch. Und wie es sich für temperamentvolle Latinas gehört, erfolgte die spanische Konversation in überaus kräftiger Lautstärke. Selbstverständlich wurde ihr launiger Gedankenaustausch immer und auf jeden Fall während der Soziologiestunde gepflegt. Ein absolutes „Muss“ war dabei die musikalische Untermalung durch die Mobiltelefone, deren Benutzung im Unterricht verboten war. Viva La Fiesta! Obwohl ich musikalisch bin, litt meine Konzentration. Aber als Älteste andauernd um Ruhe zu bitten, war einerseits problematisch, andererseits schien der geräuschvolle Trubel den Rest nicht zu stören. Dr. Moldenhauer schon. Ihm war bereits mehrmals das Kragenknöpfchen geplatzt, ehe er eines Tages Elvira vor die Tür setzte. Sie wurde bei der Erklärung einer Statistik über die Homosexuellenrate plötzlich fanatisch: „ßwule ßinde krrank, alle muße weg weg weg! ßinde ßo ekelafft!“
„Verhalten sie sich bitte ruhig“, ermahnte sie der Lehrer.
„Waaaß? Iß ßagen mein Meinung! Pfui, weg, alle!“ Sie schrie und ihre Stimme schnappte über.
„Hier kann jeder seine Meinung in einer entsprechenden Weise formulieren, aber wir sprechen gerade über soziologische Erhebungen. Ihre persönliche Meinung, die zudem mehr als fragwürdig ist und die niemand hier teilt, halten sie bitte für sich!“
„ßie, waße errlaubben ßie, iß rredde, ßagen Meinnung!“ Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Elvira war nun völlig hysterisch.
„Wenn sie nicht augenblicklich ruhig sind, verlassen sie den Raum!“ Die Abgeklärtheit von Dr. Moldenhauer bröckelte nun so schnell ab, wie alter Putz unter einem gewaltigen Wasserwerfer.
„ßie unverßämt, wenn iß ßagge, ßwule ßinde ßweine, dann“, ….in diesem Moment klingelte auch noch ihr Handy. Und sie ging tatsächlich ran: „Hola…“, doch weiter kam sie nicht.
„Rauuuuus, sofort! Verlassen sie auf der Stelle den Raum!“ Gestik, Mimik und Lautstärke des Lehrers ließen im anderen Falle Schreckliches ahnen.
Elvira verzog sich mit provozierend langsam schwingenden Hüften, aber schnellen Schrittes. Sie kam auch nie mehr wieder. Wir saßen noch eine Weile peinlich geschockt auf unseren Plätzen. Von Teresa erfuhr ich später, dass Elvira, so jung sie war, bereits drei Kinder hatte. Die Ärmsten. Ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn sie schwul wären. Lieber nicht. Teresa entwickelte sich als ausgesprochen nette Banknachbarin. Sie war mit einem Deutschen verheiratet und hatte mit ihm längere Zeit in Holland gelebt. Vor dem Unterricht unterhielten wir uns deshalb oft in dieser Sprache. Ich eher schlecht als recht, in den Erinnerungen einiger Holländischkurse kramend, sie mit einem ausgeprägten spanischen Akzent. Es war sehr lustig, in erster Linie für unsere Mithörer. Meistens tauschten wir Kochrezepte aus. Aber auch sie verließ die Schule, da ihr Mann versetzt wurde. Zum Abschied lag ein indonesisches Kochbuch auf meinem Platz.
Eine Klausur kann eine recht intime Angelegenheit zwischen Schüler und Lehrer sein, weil Lehrer durch Klassenarbeiten etwas über einen wissen. Man gibt ihnen sozusagen zu einem bestimmten Thema seine Gedanken preis, die man ansprechend zu formulieren versucht, unter Berücksichtigung des im Unterricht Erlernten. Man macht dabei gravierende, dumme, oder flüchtige Fehler. Bei Erfolg vielleicht auch mal gar keine. Man bekommt die Quittung in Form von Noten, die anhand verschiedener Kriterien von der Lehrerschaft festgelegt werden. Man hofft inständig, falls man sich blamiert hat, dass Lehrer nicht nachtragend sind. Bei Frau Frenken wussten wir unwiderruflich dass sie es nicht war. Ihre Devise zu diesem Thema lautete: „Neues Spiel, neues Glück, oder meinen sie, jedes mal wenn ich sie sehe denke ich, aha, da geht gerade die fünf in Deutsch über den Schulhof?“ Ich glaube die meisten Lehrer dachten ähnlich und waren ziemlich in Ordnung. Unglücklicherweise gab es Schulkollegen, die unfähig waren ihre eigene Leistung einzuschätzen. „Kannst du mir mal eben deine Klausur rübergeben“, fragte mich Erik, ein ewig verträumt lächelnder Jüngling mit einer rötlich feuchten Nase, nach der Rückgabe einer Englischklausur scheinheilig. „Klar“, antwortete ich naiv, „hier“, und reichte sie nach hinten. Wie blauäugig!
Erik, sowie zwei Mädchen, die ständig durch Abwesenheit glänzten, stürzten sich auf meine Arbeit. Diese wurde dann unter Gelächter kommentiert. Ich war bestürzt. Ich fühlte mich so, als würde ich nackt über unseren Wochenmarkt gejagt. Meine ureigensten Ideen wurden ungeniert der Lächerlichkeit preisgegeben, jeder Fehler laut durchgehechelt und mit den ihren verglichen. Meine eindringliche Aufforderung, die Arbeit sofort zurückzugeben, ignorierten sie. Ganz knapp bevor ich zum Mörder wurde, riss Papa T. der Geduldsfaden. Mit sonorer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, bat er mir die Klausur unverzüglich auszuhändigen. Und machte sich stark für mich: „Es scheint einige Schüler zu geben, die mit dem Ergebnis ihrer Klausur nicht ganz zufrieden sind“, stellte er fest, „dazu möchte ich grundsätzlich etwas klarstellen.“ Er betonte, dass er Flüchtigkeitsfehler bei Schülern, von deren Wissen er überzeugt sei (Kopf in meine Richtung), nicht so gravierend bewerte wie bei Schülern, die sowieso stets daneben griffen (Kopf in Richtung Erik & Co). Darüber hinaus bewerte er auch den Gedankenverlauf einer Klausur: „Eine blühende Phantasie ist dabei immer mehr von Vorteil (Kopf in meine Richtung), als einförmige Phrasendrescherei (Kopf in Richtung Erik).“
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