„Na und“, bemerkte Klaus-Willi, „stell dich doch nicht so an, du wirst wohl mal fehlen dürfen. So wie du erzählt hast, schwänzen die doch da andauernd.“
„Mit denen die das machen möchte ich mich nicht vergleichen“, antwortete ich ärgerlich, „Kohle kassieren und nicht erscheinen finde ich ziemlich dreist. Neuerdings müssen sie nach dem zweiten Tag ein Attest vorlegen.“
„Na also, dann kannst du doch fehlen solange du willst, schließlich kassiert du kein Bafög“, entgegnete mein verständnisloser Mann.
„Du kapierst es wirklich nicht, es geht um die Einstellung. Es ist mir peinlich, das ist so, als ob man beim Spicken erwischt wird“, versuchte ich Klaus-Willi meine Lage zu schildern.
„Tja, wenn das so ist, fahren wir alleine, du gehst ja lieber in die Schule. Viel Spaß.“
Ich hätte ihn erwürgen können. Am nächsten Tag half nur die Flucht nach vorne. Ich schenkte ich meiner Klassenlehrerin reinen Wein ein. Frau Frenken sah kein Problem: „Sie melden sich bei ihren Lehren für die paar Tage ab, und Basta.“
„Muss ich nicht auch den Schulleiter involvieren, weil es doch eine Woche vor den offiziellen Ferien ist“, fragte ich vorsichtig. Aber das war schon zuviel:
„Nein, nein, neiiin! Seien sie doch nicht immer so entsetzlich brav“, ereiferte sie sich mit erhobener Stimme, „das ist ja furchtbar, fahren sie zum Segeln und genießen sie ihren Urlaub!“
Sie fegte mit fliegenden Fahnen Richtung Lehrerzimmer. Und fand mich brav. Sogar entsetzlich brav. Wie deprimierend! In diesem Moment fragte mich ernsthaft, welchen Eindruck ich bei meinen Mitmenschen eigentlich hinterließ. Langsam beruhigte ich mich, indem ich positive Synonyme für brav suchte: artig, folgsam, lieb, sogar das veraltete manierlich fiel mir dazu ein. Negative Assoziationen wie harmlos, langweilig oder gar bieder, drängte ich sofort ins Abseits, denn so war ich nicht, egal was diese Lehrerin von mir dachte. Gut, dann bist du eben brav, beschloss ich, das ist jedenfalls entschieden besser als abgebrüht. Von dieser Sorte gibt es hier ja reichlich. Die Frenken kann doch froh sein, dich in ihrer Klasse zu haben, versuchte ich mein Selbstbewusstsein wieder auf Normalniveau anzuheben. Gänzlich gelang es mir allerdings erst nach dem Genuss eines mittelgroßen Quarkauflaufs, den ich sofort nach der Schule buk und restlos verdrückte, noch bevor ich mit den Hausarbeiten fertig war. Es war übrigens einer von Vielen, deren Umfang ich nach Schwere meiner psychischen Verfassung variierte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sehr selten etwas für meinen Mann übrig blieb.
Vor dem Urlaub standen diverse Klausuren an, von denen mir natürlich Mathematik das größte Unbehagen einflößte. Da alle Daten bereits am Anfang des Semesters bekanntgegeben wurden, konnte ich mich seelisch und moralisch, vor allem aber lerntechnisch darauf einstellen. Bereits als Kind empfand ich Klassenarbeiten als nervtötend- fatalerweise hatte sich daran nichts geändert. Bei der Englischklausur unseres Oxford English sprechenden, kurz vor der Pensionierung stehenden Lehrers ging es noch. Herr Trepkow, ein mächtiger Mann mit einem ebensolchen Bart, legte viel Wert auf Aussprache und gute Manieren. Da mir beides gelang, konnte ich bei ihm meine „Somi-Note“[3] nach oben pushen.
Einigen fiel beides schwer, und wenn dann noch die Hausaufgaben fehlten, hatten sie schlechte Karten. Komischerweise fühlten sich ebendiese Mitschüler oft ungerecht behandelt. Herr Trepkow hatte ein besonderes Anliegen, sozusagen einen Herzenswunsch, dessen Erfüllung ihm nach eigener Aussage bisher versagt blieb: Die korrekte englische Aussprache von „Hotel“ und „Clothes“. Seiner Meinung nach sprach jeder deutsche Schüler, ach was, jeder Deutsche, diese einfachen Worte falsch aus, was in ihm andauernd einen seelischen Tumult auslöste. Jedenfalls verlief meine erste Englischarbeit gut. Französisch ebenso. Aber die Matheklausur stand an. Schon eine Woche vor dem Termin krampften sich Herz und Magen beim bloßen Gedanken daran zusammen. Dann hörte ich die ermahnende Stimme meiner Mutter aus früherer Zeit: „ Kind, halt´ die Gedanken zusammen!“ Na Prima. Fromme Sprüche fehlten mir gerade noch. Frau Piczynski gab am Vortag der Klausur Regieanweisungen: „Rechnen sie nur einmal locker durch, essen sie was Gesundes, und gehen sie früh schlafen!“ Wenn man kann, dachte ich. Ab drei Uhr war die Nacht für mich beendet. Ich wälzte mich solange hin und her, bis Klaus-Willi wach wurde und entsprechend sauer regierte: „Wenn du jetzt schon so ein Palaver veranstaltest, frag´ ich mich, wie du das bis zum Abitur durchhalten willst?“
„Das verstehst du nicht! Meinst du etwa ich behalte Mathe bis zum Abi? Da wäre ich ja bescheuert.“
„Ich denke Mathe bei Pi ist so toll?“ Die Ironie in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Ja, aber nur ohne Klausuren“, antwortete ich völlig bedient durch die nächtliche Diskussion. Doch der Herr setzte noch einen drauf:
„Dann musst du dich abmelden! Schlaf jetzt!“
Das saß. Ich blieb regungslos nach oben stierend auf dem Rücken liegen. Morgens war ich wie gerädert. Zur Aufheiterung zog ich etwas Bequemes und zugleich Schönes an, denn in solchen Momenten ist mir mein Körpergefühl wichtig. Man stelle sich nur eine Mathematikklausur in unbequemen Klamotten vor! Die doppelte Marter. Es war ein schöner Herbsttag. Am Ortsausgang blitzte schon die Morgensonne zwischen den Reihenhäusern und blendete mich für eine Sekunde. Die Sonne. Wie wunderbar, ein positives Vorzeichen. Perfekt vorbereitet wie immer, gab es von Pi neben einer strengen Sitzordnung auch unterschiedliche Aufgabenstellungen. Abschreiben war nicht- es wäre mir sowieso nicht möglich gewesen ohne aufzufallen- ich trage nämlich Gleitsicht. Ich hatte es aber auch nicht nötig, denn bis auf wenige Knackpunkte kam ich mit der Aufgabenstellung und sogar mit meiner Zeiteinteilung klar. Na bitte. Allerdings hatte ich nach dieser intensiven Anspannung das Gefühl, zehn Kilometer auf dem Kopf gerutscht zu sein, bevor mich ein Vampir anzapfte. Gegen diese Symptome akuter Blutleere im Gehirn gab es nur ein Mittel: „Curry-Wurst Pommes extra scharf“!! Glücklicherweise fiel die Klausur in die letzten Unterrichtsstunden, sodass ich umgehend in meine Lieblingsbude fahren konnte, um noch im Auto die heiße Medizin einzunehmen. Auf der Stelle fühlte ich mich besser. Gott sei Dank bewertete ich die Morgensonne an diesem Tag als gutes Ohmen, denn hätte ich gewusst, dass es ein mobiles Blitzgerät der örtlichen Polizei war, wie sich vier Wochen später herausstellte, wer weiß, vielleicht hätte ich die Arbeit vergeigt. Und noch etwas fand ich heraus: Eitelkeit vor Klausuren lohnte sich- wie das Polizeifoto eindeutig bewies.
Türkisches FRIntermezzo [4]
Diese Episode steht substituierend für zahlreiche köstliche Begebenheiten während unserer Törns. Wahrscheinlich klappt es so reibungslos mit uns, weil jeder seine Aufgaben von Anfang an ohne Absprache gesucht und gefunden hat. Bernd, als selbsternannter Gourmet, Marathonläufer und Frühaufsteher, geht gerne morgens Brot einkaufen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Allerdings darf man ihm nur abgezähltes Geld mit geben. Frühmorgens einzukaufen ist für mich ein Gräuel. Stattdessen spüle ich lieber oder reinige die Bordtoilette. Auf deren Reparatur sich wiederum Klaus-Willi und Bernd dermaßen spezialisiert haben, dass sie sich auch gerne „Fäka-Team“ nennen. Während der Fahrt ist Bernd der Smutje für die Zwischensnacks, denn dank drei Kindern beherrscht er perfekt die hohe Kunst des leckeren Butterbrote schmieren. Abends nimmt mein Ehemann oft den Rang des Schiffkochs ein. Manchmal kochen wir auch zusammen- mit geringeren Reibereien als zu Hause. Paul ist unser Skipper, navigiert, hört Wetterberichte, trägt die Verantwortung für alle, ist sich aber auch für niedrige Arbeiten wie Kaffee kochen oder Müll wegbringen nicht zu schade. Deshalb nenne ich ihn an Bord ohne Ironie immer Käpt´n, da er die von mir gnadenlos anerkannte übergeordnete Instanz ist. Die ersten, um eine Woche selbstverlängerten, von Frau Frenken abgesegneten Ferien meines neuen Schülerdaseins lagen vor mir. Der langersehnte Türkeitörn mit Klaus-Willi, Paul und Bernd. Wir wollten nur in Buchten ankern, von denen die meisten nur eine Feuerstelle oder im günstigsten Fall eine Strandbude besaßen, deren verwegen aussehende Besitzer sich mit einem winzigen Boot näherten, um uns beim Ankern zu helfen. Wenn das nicht unbedingt nötig war, machten sie sich nützlich, indem sie uns einen schönen Ankerplatz zuwiesen, den wir uns bereits längst selbst ausgesucht hatten. So ganz en passant wurde dabei auch nach der abendlichen Essensplanung gefragt. Es war immer wieder das gleiche Ritual:
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