„Ja, ich habe nur noch Schwierigkeiten mit der Orientierung.“
„Aha, das kann doch wohl nicht so schwer sein. Wie kommen sie denn im Unterricht zurecht?“
„Bisher gut, außer dass ich dermaßen Panik vor Mathematik habe, dass nicht weiß, wie ich dieses Fach in den Griff kriegen soll. Und wenn ich erst an die Klausuren denke“, weiter kam ich nicht, denn es entlud sich einer ihrer typischen Anfälle inklusive Fußstampfen:
„Was soll denn das“, rief sie mit schriller Stimme, „sie haben doch gerade erst angefangen! Lassen sie sich mal auf etwas ein! Auch Mathematik ist zu schaffen, wenn man noch nicht ganz verblödet ist!“
Annilore Frenken schnaubte ungehalten in meine Richtung, drehte sich abrupt mit klimperndem Ohrgehänge um, und während meine Kinnlade langsam herunterfiel, ließ sie mich verdutzt auf dem Korridor zurück. Bereits als ihre wehenden Strickjackenzipfel um die Ecke bogen, vitalisierte diese herzliche Äußerung meiner Klassenlehrerin einen ungeahnten mathematischen Ehrgeiz in mir. Wo war ich nur gelandet? Gestern so gut wie verwelkt- heute fast schon verblödet! Nicht zu fassen, dachte ich, verblödet! Dir werd ich´s zeigen- und dir auch- ach was- euch allen!
Auch auf die übrigen Fächer schwappte meine Ambition über. Alle Fachgebiete bekamen eine faire Chance, da ich versuchte, meine Aversion gegen den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich aus längst vergangener Zeit zu begraben. Dies gelang mir zunächst durch erhöhte Aufmerksamkeit im Unterricht, sowie der konsequenten Ausführung der Hausaufgaben. Bis auf eine Ausnahme: Informatik! Niemals, so grübelte ich, niemals würde ich in einer Weise logisch denken können, um den Anforderungen dieses Wissensgebietes gerecht zu werden. Unvorstellbar, dass es tatsächlich Menschen gab, die nächtelang auf ihrer Tastatur hackten, oder schlimmer noch, die einen IT- Beruf ausübten. Der einzige Vorteil dieses Faches war Personengebunden und hieß Jens. Jens war unser Lehrer. Direkt in der ersten Stunde bot er uns das Du an. Wahrscheinlich hätte ich ihn sowieso geduzt, denn er erinnerte mich mit seinem fröhlichen Jungengesicht und den blonden Stoppelhaaren eher an Astrid Lindgrens „Kinder von Bullerbü“ als an einen Informatiklehrer. Jens war so nett wie er aussah und- ein kluger Kopf. Wahrscheinlich verstand ich deshalb nie was er erklärte- auch nicht beim zweiten- und nicht beim dritten Mal. Er unterrichtete an unserer Schule neben Informatik noch Mathematik und Physik, lehrte ferner an einer Fachhochschule Physik und organisierte Schülerreisen in alle Herren Länder. Manchmal fuhr er dann auch den Bus. Dieser Sachverhalt ließ mich über ein Lehrergehalt nachdenken. Während der angespannten schulischen Eingewöhnungsphase avancierte Französisch, für das ich mich statt Latein entschieden hatte, zu meinem Lieblingsfach. Madame Coens war eine zierliche „Garconette“ mittleren Alters mit einem ehernen Unterrichtskanon, dabei so energisch, dass sie selbst die großspurigsten Jungs im Griff hatte. Mir gefielen ihre ausgefallen- spielerischen Lerntipps zur Überlistung des inneren Schweinehundes. Ständig schrieben wir irgendwelche Tests, die aber für mich den entscheidenden Vorteil hatten, salopper mit der eigentlichen Klausur umzugehen, da diese Situation ständig simuliert wurde. Bei einer beträchtlichen Anzahl meiner Mitschüler stießen nicht nur die pädagogischen Maßnahmen von Madame auf keinerlei Gegenliebe, sondern ihnen graute allein schon vor der Sprache. „Diese schwule Sprache“, unkte Felix, während Tobi in einem rheinisch-französisch Mix fortfuhr: „Madame, isch hätt´ da ens enn Question!“ Überhaupt diese beiden. Sie kamen aus dem gleichen Ort, hatten zum Teil die gleichen Freunde, und schienen sich in vielen Punkten ihrer Weltanschauung einig zu sein. Dessen ungeachtet waren sie grundverschieden. Auf der einen Seite Felix, der als Klassenjüngster mit großer Mehrheit zum Klassensprecher gewählt wurde, da er offenbar nicht nur bei mir einen besonderen Eindruck hinterlassen hatte. Auf der anderen Seite Tobi, der ständig mit einem dummen Spruch auffallen wollte, vermutlich um seine Faulheit zu übertünchen.
Während seiner Einführungsrede am ersten Tag verwies unser Rektor mit Stolz auf das friedliche Miteinander seiner Schüler aus 14 Nationen. Einige von ihnen trugen T-Shirts mit der Aufschrift „No racists friend“, als evidentes und signifikantes Zeichen ihrer Einstellung zum Thema Rassendiskriminierung. Das gefiel mir. Sogar sehr. Aber was war mit mir? Diese Frage fand ich berechtigt, denn neben meiner Zwangsisolation mittleren Grades wurde ich das Gefühl nicht los, dass einige Mitschüler testen wollten, wie weit sie bei mir gehen konnten. Allen voran Tobi, das Riesenbaby. Auch er besaß ein solches Shirt, schien sich aber nicht im Mindesten über sein oft diskriminierendes Verhalten mir gegenüber im Klaren zu sein. Tobis Überzeugung war offensichtlich nur an seine Altersgruppe gebunden. Wie ambivalent sein Benehmen war, kam ihm nicht in den Sinn, Hauptsache, er hatte die Lacher auf seiner Seite.
Oft blieb mir noch etwas Zeit bevor der Unterricht begann, da ich den allmorgendlichen Stau mit einem Schleichweg umging. Meistens las ich dann in der Tageszeitung, weil sich die wenigsten mit mir unterhalten wollten. Tobi las auch. Ich schielte nach hinten- er begutachtete die Unterwäschewerbung. Plötzlich sprang er auf, schwenkte den Prospekt, um ihn lautstark und fachmännisch zu kommentieren: „Echt geil das hier. Die Alte hat ´nen superhohen Wasserfall. Und die hier, aufgespritzte Lippen, aber klasse Body und erst die abgefahrene Wäschefarbe. Mann, und schaut euch die an, die trägt Schlüpferrosa wie meine Oma!“ Er erhob die Stimme. „Naaaaaa, welche Farbe hat denn deine Unterwäsche so im Allgemeinen, Frau B.“, blökte Tobi mit einem provozierenden Grinsen in meine Richtung.
„Ausschließlich schwarz, weiß oder creme, je nach Anlass“, konterte ich wie aus der Pistole geschossen, denn schließlich hatte ich seit meinem 18.Lebensjahr fast nur männliche Arbeitskollegen, und das Wissen um einen „hohen Wasserfall“ gehörte dort quasi zur ersten Lektion. „Rot, wie es die Langbeinige auf der ersten Seite trägt, passt überhaupt nicht zu meinem Hauttyp.“
„Ist das nicht egal wenn man schon so alt ist wie du?“
„Besser alt als doof!“
Das saß. Der triumphierende Blick verschwand. Eine dezente Röte verbreitete sich auf seinem Babyface. Wider Erwarten lächelten mich Einige an und nickten zustimmend. So schnell gab sich Tobi aber nicht geschlagen:
„Meinst du mich etwa damit?“
„Womit?“
„Mit doof.“
„Wen sonst?“
„Das ist krass!“ Plötzlich dämmerte es bei ihm:
„Ja, aber du bist doch wirklich schon alt!“
„Ich bin nur älter als du.“
„Aber du stirbst eher als ich!“
„Glaube ich nicht!“
Verdutzt fragte er: „Wieso das denn nicht?“
„Weil ich dich vorher umbringe!“
Alle Anwesenden lachten, bis auf Tobi. Er senkte den Kopf ziemlich tief, so tief, dass sich seine blonden Fussellocken auf der Bank kringelten. Dann ging er auf die Toilette. Dadurch kam er zehn Minuten zu spät zum Französischunterricht, ein Umstand den Madame mit Ausschluss vom Unterricht ahndete. Plus Vermerk. Armer Tobi.
Fünfundzwanzig Jahre Ballett, du Arschloch!
In denkbar kleinen Schritten verbesserte sich meine Situation, denn wir lernten uns mit der Zeit alle näher kennen. Da war die träge Veronique, die es in erster Linie darauf anlegte, mit so wenig Einsatz wie möglich durchzukommen. Dabei riskierte sie eine flotte Lippe, kam ständig mit einem provozierenden Kaffee in der Hand zu spät, und demonstrierte mit lautem Gähnen oder entspanntem Recken den Lehrern, wo sie jetzt lieber wäre. Täglich zu spät kam auch Carola, jedoch löste sie das Problem auf eine so diskret elegante Weise, dass sie wie durch Zauberhand auf ihrem Platz erschien und allen das Gefühl vermittelte, dort übernachtet zu haben. Dieses Ritual krönte sie mit einem strahlenden Lächeln, das ihren schwedischen Typ noch besser zur Geltung brachte und Lehrer wehrlos machte. Zunächst erweckte es den Anschein, als ob Carola sich mit der intelligenten Melanie anfreundete, deren besonnenes und freundliches Naturell sich inmitten ihrer chaotischen Banknachbarn sehr abhob. Doch es kam anders. Derya funkte dazwischen. Selten hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt einen so berechnenden, egoistischen Menschen mit einem derart bemerkenswerten Mundwerk getroffen wie dieses Mädchen. Vor dieser Redegewandtheit, gepaart mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit, gingen auch die meisten Lehrer in die Knie, vor allem wenn die hüftlangen, braunschwarzen Haare nach Beendigung ihrer Ausführungen nach hinten flogen, wie ein unsichtbares Ausrufezeichen, das keinen Widerspruch duldete. Mir kam sofort der Gedanke, dass Derya die neu geschlossene Freundschaft mit Melanie als Zweckgemeinschaft sah, während für Melanie diese Verbindung einen bedeutend höheren Stellenwert hatte. Carola und ich gingen nach dem Unterricht gemeinsam zum Schülerparkplatz. Sie war empört und enttäuscht: „Melanie hätte ich etwas mehr Menschenkenntnis zugetraut, sie lässt sich doch total ausnutzen.“
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