Nach dem Festakt folgten wir Neuen den Klassenlehrern in unsere Räume. Wenigstens hatte ich damit Glück. Frau Frenken als Klassenlehrerin zu haben freute mich, denn während der Einführungszeit hatte ich Gelegenheit, sie, respektive ihren Deutsch- und Englischunterricht näher kennenzulernen.
Annilore Frenken war eine exaltierte Person mit einer Ehrlichkeit, die oft an Körperverletzung grenzte. Trotzdem, oder gerade deswegen schätzte ich sie, denn sie kannte weder Freund noch Feind. Täglich wurden ihre Lob- und Tadelkarten neu gemischt, in der Bemühung um eine objektive Beurteilung der Leistung ihrer Schüler. Sie schien sich den Teufel um Konventionen zu scheren, oder gar um soziale Erwünschtheit. Ihren vollen Mund betonte sie stets mit einem feuerroten Lippenstift, den sie auch schon mal im Klassenraum zu erneuern pflegte, was dann und wann zu kleinen Übermalungen führte. Frau Frenken trug auffälligen Schmuck zu farbenfrohen Dritte Welt Strickjacken, die aussahen als seien sie aus den 68ern in unsere Epoche gerettet worden. Die dunklen Naturlocken wurden mal gebändigt, aber nach einer durchkorrigierten Nacht, auch mal nicht. Mit einer lauten Stimme gesegnet, die in markerschütternde Höhen klettern konnte wenn sie sich aufregte, stellte jedoch ihre schallende Lache alles in den Schatten. Bemerkenswert, dass ich nie darauf gefasst war wann es losging, denn offenbar ging unsere Auffassung von Humor manchmal etwas auseinander. Ihr Lachanfall traf einen oft völlig unvorbereitet, zumal sie unterstützend dabei immer wieder mit der flachen Hand auf die Bank schlug, sodass alle Schüler schlagartig hellwach wurden. Tja, und nun saß ich in ihrer Klasse. Vorne. In der ersten Reihe. Durch den Vorkurs bemerkte ich bei mir neben der üblichen altersbedingten Seh- auch eine gewisse Konzentrationsschwäche, die sich einstellte, wenn sich meine Banknachbarn während des Unterrichts über Gott und die Welt unterhielten. Also hieß das für mich in den sauren Apfel beißen, und ab in den Vordergrund, wenn ich dem Unterricht folgen wollte.
„Kommt doch zu mir“, versuchte ich Veronique und Swantje zu locken, die ich während der halbjährigen Informationsphase kennengelernt hatte.
„Nein, komm doch mit nach hinten, was willst du denn da vorne“, echauffierte sich Veronique die kesse Halblibanesin, während ihre deutsche Begleiterin Löcher in die Luft stierte.
„Ich kann nur vorne“, rechtfertigte ich mich.
Die beiden standen noch unentschlossen herum und verhandelten mit mir, während sich die hinteren Plätze schnell füllten. „Und zwei nebeneinander sind jetzt auch in der Mitte weg!“ Veronique und Swantje waren sichtlich ungehalten, als sie sahen, dass ihr Platz nun doch in der ersten Reihe war. Widerwillig setzten sich die beiden und warfen mir böse Blicke zu. Aha, ich merkte: ganz vorne war ganz unten. Zwei weitere Mädchen mussten ebenso auf die “Strafbank“. Die Stimmung sank auf den Nullpunkt, die lautstarken Beschwerden waren nicht zu überhören. Insgeheim war ich froh. Ein Albtraum als Stammesälteste in der ersten Reihe alleine zu sitzen. Nicht auszudenken was Lehrer und Mitschüler in diesem Fall gedacht hätten:
„Die hat bestimmt Körpergeruch.“
„Die ist bestimmt total überheblich.“
„Die ist bestimmt ´ne Streberin.“
„Die ist bestimmt schon Asbach Uralt.“
„Die ist bestimmt gerade auf Selbstfindung.“
„Die hat bestimmt sonst Niemand.“
Mir fielen noch schlimmere Behauptungen ein, doch meine Lehrerin holte mich in die Realität zurück. Mit unnachahmlicher Stimme verkündete sie den Stundenplan:
„Physik, Chemie, Mathematik!“ Das Grauen.
„Soziologie, Philosophie, VWL!“ Könnte interessant werden.
„Informatik!“ Brechreiz gepaart mit blanker Panik.
„Deutsch, Englisch, Französisch oder Latein!“ Geht klar.
„Erdkunde, Biologie, Geschichte!“ Kann ich wahrscheinlich auch mit leben.
„Naturwissenschaftliches Ergänzungsfach!“ Wie bitte?
Es folgte eine komplizierte Erklärung, der ich lediglich das für mich Wichtigste entnahm: Chemie und Physik konnten irgendwann abgewählt werden.
„Ich heiße Melanie…“
„Ich bin die Carola…“
„Mein Name ist Sandra…“
Unsere Vorstellung versetzte mich wieder in den Jetztzustand. Da das Unterrichtsfach Deutsch hieß, wünschte Frau Frenken neben der üblichen Einführung zu erfahren, was denn jeder im Moment so liest. Auch das noch dachte ich, was soll ich denn jetzt nur sagen?
„…daneben lese ich gerade etwas von Ingrid Noll, einfach so, zur Zerstreuung“, setzte sich ein wunderschönes, exotisch aussehendes Mädchen mit dem Namen Derya in Szene, nachdem sie uns vorher auf das von ihr gerade verschlungene Werk der Weltliteratur aufmerksam gemacht hatte. Ich zählte ab wann ich dran war. Mir brach der Schweiß aus.
„Ich bin 19 Jahre, heiße Felix und trenne den Müll. Ich bin Zimmermann und liebe Holz.“
Welches Buch er vorstellte, war mir danach sowieso egal. Eine sofortige Sympathie für meinen neuen Mitschüler stellte sich bei mir ein.
„Ich heiße Veronique, …und ich…, also ich lese überhaupt nicht gerne, und wenn schon dann Comics.“ Oha.
„Wie wollen sie denn das Abitur ohne Lesen schaffen“, fragte die Lehrerin in einem leicht verschärften Tönchen. Die Gegenseite antwortete nur mit einem müden Schulterzucken. Es folgten noch einige Darbietungen von Protagonisten, die am besten geschwiegen hätten. Viel mehr blamieren als die kann ich mich auch nicht, dachte ich, denn zu meiner Schande musste ich mir eingestehen, dass jede schlechte Vorstellung einer meiner Mitschüler auf der Stelle eine ungemein beruhigende Wirkung auf mich ausübte. Ich entschloss mich bei der Wahrheit zu bleiben. „Und sie, Frau B.?“ Frau Frenken nickte wohlwollend mit dem Kopf in meine Richtung. Einige schauten mich erstaunt an, da sie bereits meinen Namen wusste. Ich stellte mich vor, versuchte dabei die Regeln der Rhetorik zu beachten, lächelte in die Runde, machte eine schöpferische Pause und stellte mein aktuelles Buch vor: „Die Leiche im Kreuzverhör.“
Totenstille. Die Augen unserer Deutschlehrerin kullerten. Ehe ich noch schnell den Autor nennen konnte, kam der Lachanfall. Zunächst von Annilore Frenken, dann stimmte die Klasse mit ein. Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, holte ich tief Luft und ging ich zur Offensive über: „Es ist ein kriminologisches Lehrbuch über berühmte Kriminalfälle, die mit wissenschaftlichen Methoden gelöst wurden. Der Autor beschreibt sowohl in spannender als auch in informativer Weise, wie durch Spurensicherung, Kriminalpsychologie, DNS-Analyse, Toxikologie oder Sprachidentifizierung letztendlich die Täter überführt werden konnten. Gleichzeitig vermittelt dieses Sachbuch Kenntnis über die historische Entwicklung dieser Methoden, denn bereits im Jahre 1849 konnte ein Mörder anhand der forensischen Zahnmedizin überführt werden.“ Puuuuuh!
„Ach, das ist ja interessant“, bekundete meine Lehrerin ihre Neugier, „das ist mal was völlig anderes als ein üblicher Krimi.“ Nach dem Unterricht kamen fünf Mitschüler plus Lehrerin, die sich das Buch ausleihen wollten, was mein bisher wenig beachtetes literarisches Gewissen nicht beruhigen konnte. Es war beschämend. Meine neuen Schulkameraden, die nicht ausschließlich aus unserem Land stammten, die zudem mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger waren als ich, lasen Werke, von denen ich allenthalben nur etwas gehört hatte. Aber auch nicht alle, beruhigte ich mich. Schäm dich, wie peinlich, die willst du doch wohl nicht zum Vorbild nehmen, tadelte mich mein neues Bewusstsein. So fuhr ich nach dem Unterricht umgehend in die örtliche Bücherei und entlieh dort zunächst Orwells 1984.
In den nächsten Tagen lernte ich meine neuen Lehrerinnen und Lehrer kennen. Ständig versuchte ich die entsprechenden Räume zu finden ohne mich zu verlaufen. Die Türe des Physiksaales war mit dem prominenten Poster Albert Einsteins geschmückt und leicht zu finden. Du mich auch, dachte ich immer, wenn er mir die Zunge herausstreckte. Dennoch musste ich zunächst Abbitte an das Fach leisten. Ich hatte mir nämlich vorgenommen, möglichst vorurteilsfrei an Fächer heranzugehen, die ich nicht mochte, und entdeckte dabei, dass dies eine weise Entscheidung war. Unser Lehrer hieß Herr Dr. Kivelitz. Der graubärtige Karl-Elmar Kivelitz, einer der ältesten Lehrer des Kollegiums, erschien zum Unterricht immer im grauen Anzug, dazu passend, Ton in Ton, immer mit einem grau verfärbten Leinenbeutel in der Hand. Wie es sich für einen Physiker gehört, war er seinem Fach verfallen. Seine Begeisterung für unsere Eignung hielt sich dagegen sehr in Grenzen. „Wer das nicht versteht, hat die ganze Physik nicht verstanden, der, ja der kann doch bleiben wo der Pfeffer wächst“, war einer seiner empörten Ausrufe, bei denen ich immer Angst hatte, er würde rückwärts die Treppe des Saales hinunterstürzen. Einige Jungs schlossen Wetten vor jeder Unterrichtsstunde ab, ob es denn heute soweit sei. Besonders rüpelhaft benahm sich ein Riesenbaby namens Tobi, der aus mir unbegreiflichen Gründen mit Felix befreundet war.
Читать дальше