Wenn ich mich einsam fühle, obwohl ich mit Klaus-Willi[1] verheiratet bin, wenn ich Stress habe, oder wenn irgendetwas Undefinierbares mit mir nicht stimmt, muss ich mir einen Quarkauflauf nach dem Rezept meiner Oma backen. Bei höchster Alarmstufe der für vier bis sechs Personen. Den esse ich komplett. Denn der macht Alles wieder gut. In vielen Märchen werden die Protagonisten von einer guten Fee nach drei Wünschen befragt. Im realen Leben wird man leider bei dieser Art der Befragung übergangen, nichts desto trotz möchte ich mich dazu äußern, damit sie Rückschlüsse auf meine Person ziehen können. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass meine anvisierten Herzensbedürfnisse nichts Besonderes sind und wahrscheinlich von jedem dritten Mitmenschen geteilt werden. Also: seit Jahrzehnten hege ich den großen Wunsch, mich mit allen Freunden heimlich in ein Kaufhaus einschließen zu lassen und dort bis zur Öffnung am nächsten morgen eine Riesensause zu veranstalten.
Bei meinem zweiten Wunsch würde ich gerne ausprobieren, ob der russische Trick des Tischabräumens funktioniert: Die Tafel ist festlich gedeckt und wird durch das Wegziehen der Tischdecke aufgehoben. Oder durch das zerbrochene Geschirr. Zu Hause traue ich mich nicht diesen Kniff auszuprobieren, denn das kann unter Umständen teuer werden. Vom Krach mit dem Ehemann ganz zu schweigen.
Trotz ständiger Wiederholungen konnten die Fernsehanstalten meinen dritten Wunsch bisher nicht erfüllen: In einer Seriennacht möchte ich hintereinander alle Lieblingssendungen meiner Kindheit und Jugend noch einmal erleben. Vielleicht erinnern sich ältere Leser noch gerne an Froschmann Mike Nelson, an Kobra übernehmen Sie (hierzulande hieß es noch nicht Mission Impossible, sondern Unmöglicher Auftrag) oder Hiram Holiday? An Lassie mit Jeff (nicht mit Timmy, der war langweilig), Vilma und King, Fury, am Fuß der blauen Berge, Sprung aus den Wolken, Sport, Spiel, Spannung (aber nur Spannung ), und viele, viele andere mehr, sowie an Uraltfolgen der Serie Bonanza. Bonanza! Schon als Kind begeisterte mich der chinesische Koch Hop Sing so sehr, dass ich jedem erzählte: „Wenn ich später einmal reich bin, möchte ich einen chinesischen Koch.“ Später wurde ich zwar nicht reich, modifizierte aber meinen Wunsch in: „Ich hätte gerne einen asiatischen Koch und einen Masseur und…ein Boxspring-Bett.“ Später ist auch noch heute.
Apropos China, ich reise gerne. Am liebsten zu den unterschiedlichsten Orten der Welt, soweit es der Etat erlaubt. Nachdem dieser mittels einer umfassenden Finanzprüfung festgelegt wird, stellt sich in unserem Hause die obligatorische Urlaubsfrage: „Entspannung oder Abenteuer?“ Allerdings können beide Kategorien im Laufe der Reise mühelos eine Liaison miteinander eingehen. Ganz wichtig hierbei ist aber die Einhaltung der obersten Ferienfaustregel: für null Sterne buchen- für zehn Sterne Spaß haben! Ich hoffe, dass durch die legere Vorstellung meiner Person vor ihrem geistigen Auge bereits die Protagonistin dieser Geschichte entstanden ist, oder zumindest ihr Schattenriss imaginiert werden kann. Mehr zu wissen ist zu diesem Zeitpunkt nicht nötig, denn alles Weitere ist selbsterklärend.
Ach so- ich bin übrigens bis auf einige frühe Experimente und Chemieunfälle blond. Jedenfalls so gut wie immer. Während ich hier gerade meine eigene Geschichte Revue passieren lasse, träume ich von deren Verfilmung. Ich denke zwar an eine internationale Produktion, aber mit einem in Deutschland ansässigen Regisseur, da die nachfolgenden Begebenheiten Kenntnis über eine Einrichtung voraussetzt, die es meines Wissens so in anderen Ländern nicht gibt. Kühn denke ich daran, dass Kevin Spacey als mein Ehemann Klaus-Willi ideal besetzt wäre. Der ist auch jünger als ich. Aber Spacey arbeitet doch auch als Regisseur, fährt es mir durch den Kopf, indessen unser Regisseuralphabet von Akin an bis Wortmann durchgehend. Vielleicht erträgt er keinen künstlerischen Leiter aus Deutschland. Diesen Gedanken verdränge ich sofort.
Auf jeden Fall aber sehe ich Marianne Sägebrecht bereits absolut authentisch in ihrer Rolle als skurrile Lehrerin Annilore Frenken. Oder doch Nina Hagen? In meiner Vorstellung vergebe ich weitere Rollen an herausragende Darsteller. Omnipräsente Vorzeigeakteure haben bei meinem Casting keine Chance. Bis auf Einen. Mario Adorf! Er, und wirklich nur er, ist sprachlich in der Lage, der Figur meines Vaters ihren waschechten Akzent zu verleihen.[2] Aus rationalen Gründen lasse ich jedoch in diesem Buch meinen alten Herrn hochdeutsch reden, denn ansonsten wäre eine adäquate Übersetzung dringend erforderlich. Filmmusikalisch tummeln sich in meinem Kopf wunderbare Ideen zu den einzelnen Sequenzen, selbst die Titelmusik kann ich schon festlegen. Eine schräge französische Jazzband, mit einer kräftigen Saxophonistin und ihrer „Maman“ an der Klarinette, bekommt den Auftrag für die Komposition. Dann und wann spielen sie samstags nachmittags in schreiend roten Shirts auf einem kleinen Podest vor der Kathedrale Notre Dame in Paris. Schwierigkeiten ergeben sich lediglich bei meiner eigenen Person, denn schließlich spiele ich die Hauptrolle. Keine Frage, ich liebe die Schauspielerei. Nur ist meine Sprache mit einem leicht rheinischen Singsang durchtränkt, der sich vor allem in emotionalen Situationen verstärkt entfaltet. Wie wirkt das auf ein nicht ausschließlich rheinländisches Publikum? International wiederum sehe ich kein Problem- mein Englisch ist nicht schlecht, und zur Not kann man sich synchronisieren lassen.
Trotz meiner Ambitionen sehe ich ganz klar eine Favoritin: Neiiiiin! Also bitte! Die doch nicht! Die auch nicht! Na, und die erst recht nicht! Und alle anderen sind noch zu jung. Halt! Stopp! Meine Damenwahl fällt auf…ach was, entscheiden sie lieber selbst! Ich gebe aber noch zu bedenken, dass diese Person glänzend zu Kevin Spacey als Filmehemann Klaus-Willi passen sollte.
Hoffentlich tanzt sie gerne.
Ich bin davon überzeugt, wenn sie meine Geschichte zu Ende gelesen haben, werden sie denken, den Film bereits gesehen zu haben. Oder sich wünschen ihn zu sehen.
„Wir sehen uns gleich“, sagte eine Stimme hinter mir, „sie kommen in meine Klasse.“ Ich erkannte Frau Frenken, meine schrille Englischlehrerin aus dem Vorkurs, den ich absolvierte um zu testen, ob ich noch geistig imstande sei mein Abitur nachzuholen. Die Vorbereitung verlief zu meiner Zufriedenheit, sodass ich mich zuversichtlich in dieser Schule anmeldete, deren Aula ich jetzt aufgeregt mit vielen anderen Schülern betrat. Zum Glück waren auch einige Ältere da. Ich saß neben einem dünnen, in grellbunte Tücher gehüllten Mädchen, das mir mitteilte, dass sie nun zum dritten Mal Anlauf nahm: „Weißt du, mit Kindern hast du nicht viel Zeit zu Lernen.“
„Wieviele hast du denn“, fragte ich.
„Hab´ vor kurzem mein Viertes bekommen“, antwortete sie. Als ich mich noch fragte, wie man mit vier Kindern überhaupt Zeit für irgendetwas finden konnte, las sie offenbar meine Gedanken. Und legte noch ein Schippchen drauf: „ Als Alleinerziehende muss ich schließlich auch noch arbeiten, aber in der Werbebranche geht das Gott sei Dank auch abends.“ Sie wurde etwas nachdenklich, dann bemerkte sie: „Bei meinem letzten Versuch an dieser Schule war ich in der Theatergruppe aktiv und habe mich in die SV wählen lassen.“
„Ach so“, bemerkte ich geistreich, und überlegte schnell was die SV sei. Ach ja, zu meiner Zeit die SMV- die Schülermitverwaltung.
„Dieses mal werde ich darauf verzichten- ist mir zu stressig“, resümierte die junge Mutter.
Aber nach Greenwichzeit hat der Tag doch nur 24 Stunden, lag es mir auf der Zunge. Aber es kam nicht soweit, denn an dieser Stelle mussten wir unser denkwürdiges Gespräch unterbrechen, da der Rektor nun seine Begrüßungsrede hielt und das Lehrerkollegium vorstellte. Die Älteren, die ich für Schüler in meinem Alter hielt, gehörten dazu. Da der Altersdurchschnitt meiner Mitschüler bei Anfang Zwanzig lag, hieß das für mich: ich war der absolute Oldie der Schule!
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