„So, bitte hier hinein.“ Andreas ging vor und setzte sich vor einen kompliziert aussehenden Apparat. Rainer schlurfte hinterher und sah sich staunend um. Bis auf ein paar Notebooks kannte er keines der vielen Geräte auch nur annähernd. Ein leises Summen und Rauschen war zu hören. Das kommt bestimmt von den Lüftern, sagte sich Rainer. Aber das war auch schon alles, was er sich erklären konnte.
„Ich vermute, hier machen Sie jetzt Ihren Scan“, meinte er.
„Stimmt. Das ist nichts weiter als eine 3D-Aufnahme. Wir tasten das Objekt, also in diesem Fall den Zahn, mit einem Laser ab. Der Computer errechnet ein dreidimensionales Bild, welches wir mit den anderen in unserer Datenbank vergleichen können. Früher musste man das mühsam mit Fotos oder sogar Zeichnungen machen.“
„Nur aus Neugier: wie viele Bilder haben Sie denn hier gespeichert?“
„Genau kann ich es Ihnen nicht sagen, da es täglich mehr werden. Aber es sind wohl einige Zehntausend. Da haben wir guten Chancen, was zu finden.“
Er hatte den Zahn mittlerweile mit einer Pinzette vorsichtig auf einen speziellen Halter, der sich in einem grauen Kasten befand, gesteckt. Dann schloss er den Deckel und tippte einige Informationen in den Computer ein. Schließlich drückte er die Return-Taste. „So, jetzt dauert das eine Weile“, meinte er.
„Und was passiert da jetzt?“, wollte Rainer wissen. Ihn hatte nun die Neugier richtig gepackt.
„Im ersten Schritt wird der Zahn, wie eben schon gesagt, mit einem Laserstrahl abgetastet. Das reflektierte Licht wird über Sensoren erfasst, und am Ende erhält man von dem Punkt die genauen Koordinaten im Raum, also beispielsweise wie weit vorn, rechts und oben er ist. Auf diese Weise errechnet der Computer eine so genannte Punktwolke, die die Oberfläche des Objektes darstellen. Damit wir das dann besser sehen können, folgt dann die Triangulierung, das heißt, die Punkte werden mit Linien verbunden, so dass lauter kleinste Dreiecke entstehen. Für uns sieht das dann wie eine glatte Oberfläche aus.“
„Ah ja.“ Rainer versuchte den Eindruck zu vermitteln, als ob er alles verstanden hätte. „Aber wie der Zahn aussieht, wissen wir doch schon“, meinte er.
„Wir schon, aber nicht der Computer. Er braucht die Daten, um sie mit den anderen in der Datenbank zu vergleichen. Hier.“ Er deutete auf den Bildschirm. „Sehen Sie, wie das Bild entsteht? Es ist gleich fertig.“
Rainer betrachtete stumm, wie rasend schnell ein Punkt nach dem anderen erschien. Dann erstarb das Geräusch aus dem Kasten, und aus den vielen Punkten entstand plötzlich das Bild des Zahns.
Andreas nahm die Maus und bewegte sie hin und her. In gleichem Maß drehte sich das Bild in jede beliebige Richtung. „So, dann wollten wir mal sehen.“
Er rief ein anderes Menü auf und startete die Suche. Bereits nach zwei Sekunden tauchte die Meldung auf: „ no match found “.
„So schnell geht das?“ wunderte Rainer sich.
„Ja, mit den neuen Prozessoren kein Problem“, sagte Andreas geistesabwesend. Er war erstaunt, dass es keine Übereinstimmung gab. Das war früher oft so, weil einfach noch nicht so viele Einträge verfügbar waren, mit denen man hätte vergleichen können. Aber das letzte Mal hatte er einen solchen Fall vor fast einem Jahr. Er rief das Menü noch einmal auf, änderte eine Zahl und startete die Suche erneut. Wieder mit dem selben Ergebnis: no match found .
„Das ist sehr merkwürdig. Sind Sie sicher, dass er wirklich vom Flughafensee in Tegel stammt?“ fragte er Rainer.
„Ja, definitiv. Er lag neben einem völlig zerfetzen Wildschwein.“ Bei dem Gedanken daran wurde ihm mulmig. Er sah den Kadaver wieder vor sich liegen. Nach Frühstück war ihm nun nicht mehr zumute.
„Tja, dann bleibt wohl doch nur die Genanalyse. Aber da wollen Sie sicherlich nicht warten, denn das dauert ein paar Tage“, meine Andreas.
Rainer war enttäuscht. Er hatte sich eine schnelle Antwort erhofft und keinen ratlosen Wissenschaftler. Aber zumindest hatten sie hier ja noch ein paar Methoden zur Verfügung, um das Rätsel doch noch zu lösen. Missmutig meinte er zu Andreas: „Sie werden schon wissen, was zu tun ist. Hier ist meine Karte. Wenn Sie etwas herausgefunden haben, Sie wissen schon. Auf Wiedersehen.“ Mit diesen Worten verließ er das Labor.
In diesem Moment kam ihm Renate entgegen. „Und, was gefunden?“ rief sie schon von weitem.
„Nein, nichts vergleichbares. Ihre Datenbank ist wohl doch nicht so vollständig.“ Er wunderte sich über seinen eigenen Sarkasmus und entschuldigte sich dann. „Ähm, ich meine, Ihr Kollege hat auf jeden Fall sein Möglichstes getan. Vielleicht ist es ja doch eine neue Art, die Sie noch nicht registriert haben.“
„Wir werden sehen“, antwortete Renate knapp. „Ich rufe Sie an, wenn wir mehr wissen.“
Am Sonntag Nachmittag war Julia mit dem Zug zurück nach Genf gefahren. Sie hatte dort für die Zeit ihres Praktikums eine kleine Ferienwohnung in der Avenue de Vaudagne gemietet, knapp zwei Kilometer vom CERN entfernt. Während der gesamten Fahrt ging ihr die Geschichte, die ihr Vater ihr erzählt hatte, nicht aus dem Kopf. Ihre fast unnormale Neugier war geweckt und ließ sie nicht mehr los. Sie beschloss, der Sache nachzugehen, um herauszufinden, wer oder was dahinter steckt.
Früh am Montag verließ sie ihre Wohnung und schwang sich auf ihr Fahrrad. Trotz des Regens letzte Nacht war es recht mild. Alles duftete nach Frühling. Die frische Luft half ihr, nach einer unruhigen Nacht einen klaren Kopf zu bekommen. Nach nicht einmal zehn Minuten erreichte sie gut gelaunt das Gelände des CERN. Mittlerweile fand sie sich in dem Labyrinth von Gebäuden gut zurecht und saß kurz darauf in ihrem Büro, das sie sich mit zwei anderen Praktikanten teilte. Sie nahm sich die Unterlagen von letzter Woche hervor und begann dort weiterzulesen, wo sie aufgehört hatte. Es war ein interner Bericht über die neuesten Versuche am LHC, dem großen Teilchenbeschleuniger. Sie hatte sich mittlerweile einige Fragen dazu notiert und wollte am späten Vormittag Dr. Rolf Bartels, der die Versuche dort leitete und ihr als Ansprechpartner genannt wurde, treffen. Sie kannte ihn bislang nur von ihrem Vorstellungsgespräch und freute sich auf das Treffen, denn er war sehr aufgeschlossen und hilfsbereit, wenn es darum ging, sein Wissen anderen Interessierten weiterzugeben.
Die Zeit verging wie im Flug, und erschrocken blickte sie auf die Uhr. Es war bereits kurz nach elf, und sie musste einmal quer über das Gelände laufen. Kurzentschlossen griff sie zum Telefon. „Hallo Herr Dr. Bartels. Hier ist Julia Marquardt. Wir waren für elf Uhr verabredet.“
„Hallo Frau Marquardt. Ja, das stimmt. Was ist, passt es Ihnen nicht?“, fragte er.
„Doch, schon. Ich habe nur die Zeit vergessen und mache mich jetzt auf den Weg. Ich bin in circa zehn Minuten bei Ihnen. Es dauert auch nicht lange“, versprach sie.
„Kein Problem. Machen Sie ganz in Ruhe. Mir ist hier nicht langweilig, und ich habe mir für Sie Zeit genommen. Mein nächster Termin ist auch erst um drei. Was meinen Sie, sollen wir dann vielleicht noch gemeinsam Mittag essen?“
„Ja, sehr gern. Bis gleich.“ Sie fühlte sich geschmeichelt, denn Dr. Bartels war einer der angesehensten Wissenschaftler beim CERN. Er hatte schon etliche Veröffentlichungen geschrieben und war in allen einschlägigen Fachkreisen bekannt. Sein Spezialgebiet befasste sich mit Parallelwelten und schwarzen Löchern als möglichen Übergängen dazwischen. Durch seine Theorie, die er stückweise immer wieder mit neuen experimentellen Ergebnissen untermauern konnte, sorgte er dafür, dass die Diskussionen um dieses Thema nicht endeten.
Julia packte ihre Unterlagen in eine Mappe, fischte ihre Jacke von der Garderobe und verließ das Büro. Auf den Aufzug wollte sie nicht warten und rannte statt dessen die Treppe hinunter. Es war ihr peinlich, zu spät zu kommen. Sie wusste genau, wohin sie gehen musste. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie endlich das Gebäude. Er hatte sein Büro im dritten Stock, aber dummerweise hatte sie vergessen, sich die Raumnummer zu merken. „Egal“, dachte sie. „So groß wird das schon nicht sein.“
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