„Das klingt, als ob du schlechte Erfahrung gemacht hast“, forschte Heiner.
„Es wurde zwischendurch doch ziemlich lästig durch diese verdammten Demonstranten, die uns ständig belagern und mit ihrem nicht mal Halbwissen auf die Nerven gehen. Das CERN steht ohnehin im Fokus der Öffentlichkeit. Aber die Risikobewertung für diese Experimente ist extrem umfangreich und mit den Behörden bis ins Kleinste abgestimmt. Da passiert nichts, was wir nicht ruhigen Gewissens vertreten können. Schließlich sind wir diejenigen, die am nächsten dran sind und die Konsequenzen als erste zu spüren bekommen.“
Ihre Mutter schaltete sich wieder ein: „Die haben da von Parallelwelten geschrieben in dem Artikel. Wobei eine Art Tor sich durch diese Experimente öffnen soll, durch das Menschen verschwinden oder Wesen aus anderen Welten auf die Erde kommen können. Also für mich klingt das wirklich wie Spinnerei.“
„Da wäre ich vorsichtig“, widersprach Julia. „Denk an den Vergleich mit dem Handy. Nicht alles, was du heute für Spinnerei hälst, ist auch wirklich unmöglich.“
Heiner wurde plötzlich heiß. Er sank in seinen Stuhl zurück. Ihm kam ein furchtbarer Gedanke. Sollte er sein Erlebnis von gestern erzählen? Wie würden Julia und Simone reagieren? Hielten sie ihn dann auch für einen Spinner? Aber die Antwort wurde ihm mehr oder weniger abgenommen.
„Was ist mit dir, Schatz“, fragte Simone. „Ist dir nicht gut?“
„Doch doch, alles ok. Ich habe nur gerade überlegt, ob ich euch erzählen soll, was ich gestern vor dem Rückflug in Tegel gesehen habe.“
„Wieso? Was war denn? Nun zier dich nicht. Jetzt hast du uns neugierig gemacht, also raus mit der Sprache“, forderte ihn Julia auf. „Das klingt ziemlich spannend, so wie du gerade aussiehst.“
Heiner war gedanklich aber schon wieder beim letzten Abend. Wie in einem Zeitlupenfilm liefen die Bilder vor seinem inneren Auge ab. Er versuchte, sich an Einzelheiten zu erinnern, aber je angestrengter er nachdachte, desto verschwommener wurde die Erinnerung. War es wirklich keine Spiegelung im Cockpitfenster? Nein, das konnte nicht sein, denn die Maschine war ja in Bewegung, das Licht verharrte aber an einer festen Stelle über dem See. Und die anderen, einschließlich der Kollegen im Tower, hatten es auch gesehen. Die Worte von Julia hallten noch in seinem Kopf: nicht alles, was du heute für Spinnerei hälst, ist auch wirklich unmöglich . Es konnte also gut sein, dass er Zeuge von etwas geworden war, von dem andere Menschen nur träumten.
„Also, ähm, ich war gerade auf dem Weg zur Startbahn, da habe ich über dem Wald am Flughafensee eine Art Lichtsäule bemerkt. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen, aber ihr kennt doch den Film Thor , die Szene, in der er das erste Mal auf die Erde kommt. So ähnlich sah das aus. Nur dass das hier wirklich da war und nicht aus dem Computer kam wie im Film.“
Julia und Simone sahen ihn erschrocken an. Julia fixierte ihn regelrecht und wartete, ob noch mehr kam. „Wem hast du sonst noch davon erzählt?“ fragte sie.
„Erzählt? Alle Passagiere und er Tower haben es auch gesehen. Die offizielle Erklärung war eine nicht genehmigte Lightshow im Wald. Aber ich habe etwas gespürt. Das hat etwas mit mir gemacht. Haltet mich jetzt bitte nicht für verrückt. Es ist wirklich so gewesen. Ich kriege schon wieder eine Gänsehaut, wenn ich daran denke.“ Seinem Gesichtsausdruck nach schien er wirklich sehr mitgenommen zu sein von der Sache.
„Verrückt bist du sicherlich nicht“. Julia blickte gedankenverloren auf ihr fast leeres Glas. „Du warst vielleicht Zeuge eines ganz besonderen Fluges. Ich habe da ein ganz ungutes Gefühl. Ich frage mich gerade, warum ausgerechnet du etwas gespürt hast und die anderen nicht. Vielleicht war es deine Position im Cockpit und das elektromagnetische Umfeld, was dieses Gefühl bei dir so deutlich hat hervortreten lassen. Aber bitte, das ist eine sehr vage Vermutung.“
Heiner sah sie verunsichert an. „Und was soll ich jetzt machen?“ Was ist, wenn das wieder passiert?“
„Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass sich das so schnell und genauso wiederholen wird. Aber eines: wenn ich dich jemals um etwas gebeten haben sollte, vergiss es. Nur lass es allen anderen gegenüber bei der offiziellen Erklärung bewenden.“
Marie, Leon und Jonas hatten sich schon lange auf die ersten halbwegs warmen Tage gefreut. Sie hatten gerade ihre Abiturprüfungen hinter sich und hatten allen Grund zum feiern. Sie kannten sich schon seit dem ersten Schuljahr, und alle drei waren so etwas wie Kumpels, die sich alles erzählen konnten. Seit einiger Zeit jedoch entwickelte sich zwischen Marie und Leon etwas mehr als bislang, und Jonas war davon überhaupt nicht begeistert. Dennoch hielten sie zusammen.
An dem heutigen Samstag wollten sie abends am Flughafensee ein Lagerfeuer machen, ein paar leckere Steaks grillen und dann dort übernachten. Warme Schlafsäcke und reichlich Essen und Trinken sollten dafür sorgen, dass ihnen die noch immer empfindlich kühlen Nachte nicht die Laune verdarben.
Am Grillplatz war in dieser Jahreszeit nichts los, und so konnten sie sich die beste Stelle aussuchen. Während die beiden Jungen Holz zusammen trugen, packte Marie das Essen aus. Bald brannte ein kleines Feuer, und auf dem mitgebrachten Grillrost brutzelte das Fleisch. Der Duft ließ ihnen schnell das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Zeit wurde mit ein paar Bier verkürzt, und dann ließen sie es sich schmecken. Allmählich wurde es kühl, und sie holten die Schlafsäcke hervor, um sich warm zu halten. Leon und Jonas erzählten sich Gruselgeschichten, bis es Marie zu viel wurde.
„Hört endlich auf damit. Ich kriege sonst heute Nacht kein Auge zu,“ rief sie. „Mir reicht es schon, wenn ein paar Wildschweine in unsere Nähe kommen.“
Leon und Jonas grinsten sich an. „Keine Sorge“, meinte Leon, rückte näher an sie heran und legte den Arm um sie. „Wir sind doch bei Dir. Wir beschützen Dich. Und außerdem sind diese Viecher doch viel zu scheu. Wenn sie das Feuer sehen, trauen die sich doch eh nicht an uns ran.“
„Ja, und wenn, dann haben wir eben einen leckeren Nachtisch, genau wie Obelix.“ Jonas meinte, damit einen besonders guten Witz gemacht zu haben, aber sie verzog nur abfällig den Mund. Diese Art Humor konnte sie nicht teilen. Mit einem Mal zogen die bis dahin dichten Wolken ab, und der fast volle Mond warf durch die Zweige der Bäume gespenstische Schatten auf den Boden. Die drei betrachteten stumm das Schauspiel.
In diesem Moment raschelte es laut in den Büschen, die zwischen ihnen und dem See lagen. Marie dachte sofort an die Wildschweine.
„Siehste, da sind sie schon. Lasst uns nach Hause fahren“, bat sie. „Ich weiß nicht, ob die schon Junge haben. Und dann sind die doch auch aggressiv.“
„Mädel, nun krieg Dich ein“, versuchte Leon sie zu beruhigen. „Wir rücken denen doch nicht auf die Pelle. Wir lassen die in Ruhe, und die uns. So einfach ist das. Also nimm dir noch ein Bier und gib endlich ....“
Er wurde durch ein lautes Platschen und Rascheln, gefolgt von einem schrillen Quieken, das ihnen allen unter die Haut ging, unterbrochen. Sie hörten ein schleifendes Geräusch, Zweige brechen, als ob etwas Schweres durch die Büsche gezogen wurde, und dann ein leises Knurren. Plötzlich brach eine Rotte Wildschweine aus dem Gebüsch und rannte geradewegs auf sie zu. Die Tiere schienen wie von Sinnen, achteten nicht auf die Umgebung. In kaum zwei Metern Abstand rasten sie am Feuer vorbei.
Bevor die drei es realisierten konnten, war der Spuk vorbei. Sie starrten auf die Stelle, an der sie die Geräusche gehört hatten, konnten aber im flackernden Licht des Feuers nichts erkennen. Vor Angst wagten sie kaum zu atmen, aber es blieb ruhig. Außer dem leisen Rauschen des Windes in den noch kahlen Zweigen der Bäume war nichts zu hören.
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