Für Marie war das nun endgültig genug. „Lasst uns verschwinden. Sofort!“, flüsterte sie. Sie zitterte, und ihre Stimme versagte fast. „Ich hab Angst. Da ist was im Gebüsch. Die sind ja gerannt, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre.“ Sie sah von einem zum anderen, die Augen weit aufgerissen. „Nun sagt doch endlich was!“ Ihre Panik war fast greifbar.
Leon und Jonas sahen sich an. „Ich glaube, Du hast Recht. Aber erst, wenn das Feuer ausgeht“, meinte Leon. Sein Versuch, den Coolen zu spielen, scheiterte kläglich. Das Zittern in seiner Stimme zeigte den anderen beiden nur allzu deutlich, dass auch er sich alles andere als wohl fühlte.
„Nein, jetzt sofort.“ Marie war bereits aufgestanden und packte hektisch ihre Sachen zusammen. Einen Augenblick später saßen sie und Leon auf ihren Fahrrädern und fuhren davon.
„He, wartet auf mich!“ Jonas wollte nicht allein in dieser unheimlichen Umgebung bleiben. Ein leises Rascheln, das sich Richtung See näherte, ließ ihn herumfahren. Er versuchte, neben den flackernden Schatten, die das Feuer warf, etwas zu erkennen. Er sagte sich zu seiner eigenen Beruhigung, dass es wohl nur eine Maus sei, glaubte letztendlich aber doch nicht daran. Das Geräusch wiederholte sich, diesmal aber lauter und ganz offenbar viel näher. Das war ihm nun doch zu viel. In einer aufkommenden Panik schwang sich ebenfalls auf sein Rad und fuhr den anderen beiden hastig hinterher. Das Feuer war ihm total egal.
„Und so was am Sonntag morgen. Wir waren gerade so schön beim Frühstücken“. Hauptkommissar Rainer Michels war stinksauer und machte daraus keinen Hehl. Sein Mitarbeiter Dietmar Junghans kannte ihn schon lange genug und wusste mit seinen Launen umzugehen. „Ach komm. Das wird bestimmt nicht lange dauern. Danach kannst Du in Ruhe weiteressen,“ meinte er mit einem Seitenblick auf seinen Chef. Dass dieser ungern eine Mahlzeit ausließ, stand nicht unbedingt im Widerspruch zu seiner Figur. Ansonsten war Rainer schon allein aufgrund seiner Größe von fast zwei Metern eine imposante und Respekt einflößende Persönlichkeit. Fachlich war er unerreichbar, was sicherlich auch seiner fast dreißigjährigen Berufserfahrung zu verdanken war. Aber er hatte wie alle anderen auch seine Macken, und wenn ihm jemand sein Essen streitig machte, sank seine Laune um etliche Zehnerpotenzen ab.
Er parkte den Wagen unmittelbar vor der Schranke am Ende der Straße und achtete nicht auf das Parkverbotsschild. Um diese Zeit waren ohnehin kaum Leute unterwegs, und sie wären ja auch in ein paar Minuten zurück. Rainer zwängte seinen fülligen Körper aus dem Auto und folgte seinem wesentlich sportlicheren Kollegen. Als sie in Richtung See gingen, kam ihnen bereits eine Streifenpolizistin entgegen.
„Guten Morgen, die Herren. Kommen Sie bitte, ich zeige Ihnen, warum wir von dem zuständigen Förster hergerufen wurden.“
Vor den Büschen, die das Seeufer an dieser Stelle säumten, stand ein älterer Herr mit Hund und unterhielt sich mit dem anderen Streifenpolizisten. Als Rainer näher kam, hörte er gerade, wie er zu Protokoll gab: „… wie immer morgens meine Runde mit dem Hund. Sie wissen ja, er braucht seinen Auslauf. Normalerweise ist er ruhig und geht nie weiter als fünf, sechs Meter weit weg. Aber vorhin war das anders. Er blieb erst stehen und rannte dann wie besessen da rein. Und fing an zu bellen. Er ließ sich nicht beruhigen. Naja, und als ich nachgesehen habe, fand ich es.“
Es. Es? Rainer sollte sofort erfahren, was damit gemeint war. Etwa zwei Meter vom Wasser entfernt lag ein Wildschein. Oder vielmehr das, was man mit viel Fantasie einem Wildschwein zuordnen könnte. Der total zerfetzte Kadaver war offenbar auch ein paar Meter weit gezogen worden, wie er an dem rundherum blutverschmierten Gras und den tiefen Spuren auf dem sandigen Boden feststellen konnte.
Zögernd ging er näher heran. Er musste nicht so aufpassen wie bei einem Verbrechen, bei dem Menschen zu Schaden kamen, war aber doch vorsichtig genug, um keine Spuren zu verwischen. Direkt an der Wasserlinie sah er einen Abdruck, einen weiteren, etwas verschwommen, im seichten Wasser. Er stutzte, denn offenbar hatte das Tier drei Zehen, die nach vorne zeigten, und zwei, die nach hinten wiesen. Er kramte in seinen bescheidenen Biologiekenntnissen, welche Art von Tier das gewesen sein könnte, aber ihm fiel nichts Vergleichbares ein. Die ihm bekannten hatten doch alle drei oder vier Finger und nur einen Daumen. Aber so ganz sicher war er sich dann doch nicht.
In dem Moment kam Dietmar triumphierend auf ihn zu und zeigte ihm etwas in einer Tüte.
„Sieh mal. Ich glaube, unser Wildschweinmörder hat uns einen Teil von sich dagelassen.“
Es war ein Zahn. Rainer sah ihn sich genau an. Er war sechs bis sieben Zentimeter lang, leicht gebogen und hatte in der Innenseite des Bogens eine Einkerbung, die längs fast über den ganzen Zahn verlief. Er schien sehr scharf zu sein und gehörte definitiv einem Raubtier, einem großen Raubtier. An der Zahnwurzel waren kleine Reste Zahnfleisch und getrocknetes Blut zu sehen.
„Was war das für ein Vieh?“, fragte er. „Hier, sieh Dir mal diese Spuren an. Hast Du so etwas schon mal gesehen?“
Dietmar folgte mit seinem Blick der Richtung, in die Rainer zeigte. „Er zögerte erst, ging dann aber näher und betrachtete den Abdruck eine ganze Weile. „Nein. Ich habe keinen blassen Schimmer, was das war. Das ist wirklich komisch. Ich fürchte, da kommen wir allein nicht weiter. Aber geht uns das überhaupt was an?“
„Sag mal, wie lange bist du schon bei der Polizei?“, brauste Rainer auf. „Wir haben es hier mit etwas zu tun, was sich offenbar frei bewegt und verdammt gefährlich ist. Diesmal war es ein Schwein, aber was ist mit den Spaziergängern? Gerade heute am Sonntag. Willst du nachher zurückkommen müssen und eine menschliche Leiche untersuchen? Wir sperren den Bereich ab, bis wir eine Idee haben, was hier los ist. Sag den Kollegen Bescheid. Und ich werde mal rumtelefonieren, wer uns hier weiterhelfen kann.“
Ärgerlich stapfte er in Richtung Auto davon. Das war´s also erstmal mit der Fortsetzung des Frühstücks. Er wollte gerade einsteigen, als ihn jemand ansprach.
„Sind Sie von der Polizei?“, wollte eine ältere Frau wissen. „Vielleicht können Sie mir sagen, was hier los ist.“
Rainer hatte keine Lust, sich mit den Problemchen alter, vereinsamter Leute zu beschäftigen. Die ganze Sache wurmte ihn ohnehin, zumal er keine Idee hatte, wie er schnell aus der Sache heraus kommen konnte.
„Wissen Sie,“ fuhr die Frau fort, „gestern nachmittag ist mein Hund von einem Tier im See gefressen worden. Und nun überlege ich die ganze Zeit, was das sein kann.“
Rainer stutze und drehte sich zu der Frau um. „Was sagen Sie da? Ein Tier hat Ihren Hund gefressen? Hier im See?“
„Ja. Wenn ich es Ihnen doch sage. Ach ja, Entschuldigung. Obermeier ist mein Name, Renate Obermeier. Ich wohne hier gleich ein paar Häuser weiter. Wenn ich Ihnen helfen kann, würde es mir helfen. Ich habe doch so an Alfi, meinem Hund, gehangen.“
„Vielen Dank.“ Rainer bemühte sich, freundlich zu sein. „Aber wir kommen schon klar. Das ist alles nur Routine.“
„Routine? Entschuldigen Sie, aber das glaube ich nicht. Ich kenne mich mit Tieren sehr gut aus, ich bin Biologin. Allerdings seit zwei Jahren im Ruhestand. Wissen Sie, mein Hund ist von einem monströsen Tier gefressen worden. Ich habe es mit ansehen müssen.“ Sie schloss die Augen, um ihre Tränen zu unterdrücken. „Ich habe gestern Abend lange gegrübelt, um herauszufinden, was das gewesen sein könnte. Aber ich bin ziemlich ratlos. Sowas habe ich noch nie gesehen.“
Rainers Interesse stieg schlagartig an. „Sie sind Biologin?“ Er blickte zurück zum See und sah dann eine ganze Weile auf seine Schuhe, die schon lange eine gründliche Reinigung verdient hätten. „Vielleicht können Sie uns doch helfen.“
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