Renate starrte auf die Stelle, wo eben noch ihr Liebling schwamm, als sie plötzlich mit Erschrecken feststellte, dass sie viel zu nahe am Wasser stand. Panikartig rannte sie den schmalen Strand hinauf, stolperte über eine Wurzel, raffte sich wieder auf und rannte weiter. Völlig außer Atem drehte sie sich vorsichtig um und blickte zurück auf den See, der nun wieder so ruhig und friedlich aussah, wie sie ihn schon so oft erlebt hatte. Als ob nie etwas gewesen wäre.
Sie fühlte sich wie in einem bösen Traum, als sie mit schleppenden Schritten zurück zu ihrem Haus ging. Ihre Nachbarin Christel stand zufällig im Garten und blickte erschrocken auf.
„Was ist denn mit Dir los? Ist Dir nicht gut? Wo ist denn Alfi?“
Bei der letzten Frage brach Renate in Tränen aus. „Alfi ist weg. Von einem Tier gefressen. Er hatte doch nur ....“ Die weiteren Worte gingen in ihrem Schluchzen unter. Christel sah sie ungläubig an. „Von einem Tier gefressen? Hier gibt es doch keine Raubtiere!“
„Ich ... ich weiß nicht. Aber Du musst mir glauben. Es kam aus dem Wasser und hat ihn mitgezogen. Einfach so.“
„War es ein Fisch? Aber so große gibt es doch hier nicht. Komm her. Setz Dich erstmal und erzähl in Ruhe.“
Heiner Marquardt saß an demselben Samstagabend mit seiner Tochter und seiner Frau in der Kölner Altstadt in einem kleinen, aber feinen Restaurant. Die Lammkeule war hervorragend gewesen, und sie hatten ihr Besteck nach dem letzten Bissen abgelegt. Nun erzählten sie sich bei der zweiten Flasche Tempranillo, was sie in der letzten Zeit erlebt hatten.
Julia war sein einziges Kind. Sie war schon immer an Physik und Astronomie, ja eigentlich an allen Naturwissenschaften interessiert und hatte ihn so manches Mal mit ihren bohrenden Fragen in Verlegenheit gebracht. Er war froh, wenn er sich dann zumindest ein wenig bei Wikipedia oder auf anderen Internetseiten kundig machen konnte. Aber irgendwann musste er sich und auch ihr eingestehen, dass das nicht mehr reichte. Mit ihren kurzen blonden Haaren, der schlanken Figur, den Sommersprossen rund um die Nase und vor allem ihrer Spontaneität und Ungezwungenheit machte sie alles andere als einen streberhaften Eindruck, aber mit ihrem hervorragenden Abitur konnte sie sich quasi einen Platz für ihr Physikstudium aussuchen. Zusammen mit einer Freundin zog es sie daher vor ein paar Jahren nach Freiburg und sah ihre Eltern nur noch alle paar Monate.
Nun war sie seit einer Woche in Genf und machte ein Praktikum in der wohl berühmtesten Kernforschungsanlage der Welt, dem Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, der Europäischen Organisation für Kernforschung, kurz CERN. Sie war durch ihren Professor an die Stelle gekommen und sollte ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Elementarteilchen vertiefen. Mit ihren 23 Jahren hatte sie ihr Physikstudium in Rekordzeit und sehr guten Noten bereits fast hinter sich. Für ihre Promotion, die sie beabsichtigte wieder in Freiburg zu machen, wollte und durfte sie die Ergebnisse der Arbeit im CERN verwenden.
„Los Julia. Nun erzähl doch mal vom CERN. Ich habe zwar schon ein bißchen davon gehört und gelesen, aber du hast doch bestimmt schon Insiderwissen. Was sind denn da so für Leute? Was musst du denn machen? Läuft da wirklich so ein gruseliges Experiment, bei dem schwarze Löcher erzeugt werden?“
„Nun mach mal langsam,“ lachte Julia. „So viele Fragen kann ich mir doch gar nicht merken. Ich fang mal hinten an. Also, zu diesem Experiment kann ich nicht viel sagen. Ich weiß nur, dass sie am LHC versuchen, neue Teilchen zu entdecken. Und dafür werden nun Protonen mit besonders hohen Energien aufeinander geschossen.“
„Moment. Ich habe zwar davon schon gelesen, aber erklär doch nochmal, was ein LHC ist.“
„Sorry, ich war wieder in meinem Element. LHC steht für ´Large Hadron Collider´, das ist ein unterirdischer Ringtunnel von 26,7 km Länge, in dem durch Magnetfelder Teilchen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden und dann aufeinander prallen. Durch den Zusammenstoß entstehen neue Teilchen, die über komplizierte Detektoren analysiert werden. Schonmal davon gehört?“
„Es wird wohl seinen tieferen Sinn haben, dass man so viel Geld für diese Experimente ausgibt.“
„Naja, es ist halt Grundlagenforschung. Irgendwann haben wir so viel Verständnis von der Welt um uns herum, dass wir Dinge tun können, von denen wir heute nur in Science-Fiction-Romanen lesen können.“
Nun schaltete sich Simone, Heiners Frau ein. „Was wäre das denn zum Beispiel? Ich meine, wir haben doch alles zum Leben. Und uns geht es wahrlich gut.“
„Es geht auch nicht um die Lebensgrundlage für heute. Sondern für die Zukunft. Irgendwann müssen wir uns vielleicht nach neuen Lebensräumen umsehen, weil die Erde nicht mehr bewohnbar ist. Oder sich einfach zu viele Menschen um die knappen Ressourcen streiten. Daher auch die Suche nach anderen Planeten, die der Erde ähnlich sind und vielleicht eines fernen Tages von uns besiedelt werden könnten. Die heißen übrigens Exoplaneten“
„Aber die Entfernung ist doch viel zu groß. Das ist doch alles reine Fantasie.“
„Pass auf. Ein Vergleich. Hol mal dein Telefon raus.“
Sie legte ihr Smartphone auf den Tisch. „Was hat das denn damit zu tun?“
„Ganz einfach. Was wäre, wenn du Deinem Opa gesagt hättest: in 40 Jahren gibt es Telefone, die kein Kabel mehr haben. Es sind mehr oder weniger Glasscheiben mit etwas Elektronik, die in jede Tasche passen. Und zudem gibt es einen weltumspannenden Computer, so möchte ich mal das Internet nennen, der unbegrenzt alle möglichen Informationen zur Verfügung stellt. Und mit dieser Glasscheibe kannst du nicht nur in alle Ecken dieser Welt telefonieren, sondern du kannst auch nachsehen, ob dein Zug Verspätung hat oder wie das Wetter in drei Tagen wird. Was meinst du, hätte er gesagt?“
„Tja, so gesehen hast du allerdings Recht. Er hätte mich für eine Spinnerin gehalten. Aber was hat das nun mit deinen Planeten zu tun?“
„du hast eben selber gesagt, dass diese Welten viel zu weit weg sind. Das stimmt, von unserem jetzigen Standpunkt aus gesehen. Ich erklär´s dir mit einem kleinen Versuch. Nimm mal deine Serviette. Breite sie aus und mach auf die gegenüberliegenden Ecken einen Punkt. Einfach mit dem Rest Sauce. Was ist jetzt die kürzeste Entfernung zwischen den beiden Punkten?“
„Ha, das weiß ich noch. Immer die Gerade. Und da kann ich machen, was ich will. Das wird sich nicht ändern.
„Doch. Und damit sind wir beim Kern der Sache. In der Ebene der Serviette hast du Recht. Aber nun falte sie mal so, dass die beiden Punkte übereinander liegen. Wie groß ist die Entfernung jetzt?“
Schweigen. Simone sah sie lange an. „Du meinst wirklich, dass diese Experimente dazu dienen können, irgendwann sowas mit dem Raum zu machen? Um so diese immensen Entfernungen zu überbrücken?“
Heiner meldete sich zu Wort: „Ich kann mir das schon vorstellen. Überleg doch mal, wie rasant sich die Wissenschaft und unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.“
„Das genau ist es, was ich meine. Aber wiegesagt, davon sind wir noch weit entfernt. Vorstellen können wir uns das mit unseren Sinnen nicht, aber Albert Einstein, Steven Hawking und einige andere sind fest davon überzeugt, dass es irgendwann funktionieren wird. Die theoretische Physik mit ihren mathematischen Modellen beweist uns schon heute, dass es mehr als nur die drei Dimensionen gibt. Oder besser gesagt, die vier, wenn ihr die Zeit mitrechnet.“
Simone war nachdenklich geworden. „Das klingt sehr überzeugend. Und ich habe das letztens irgendwo gelesen. War da nicht ein Artikel in der Zeitschrift Abenteuer Universum ?“
„Stimmt,“ pflichtete Julia ihr bei. „Aber ich bin mir nicht sicher, was davon wirkliche Wissenschaft war und inwieweit der Autor seine Fantasie hat mitspielen lassen. Diesen Journalisten kommt es doch ohnehin nur auf die Anzahl der potentiellen Leser an und erst in zweiter Linie auf richtigen Inhalt“, schimpfte sie merklich lauter. Erschrocken blickte sie sich um, aber von den anderen Gästen nahm keiner Notiz davon.
Читать дальше