Die Begegnung
Ein Werkstattbuch
Anna Klein
Anna Klein
Inhalt
1.0 Prolog
2.0 Die Anzeige
3.0 Die Antwort
4.0 Die SMSs
5.0 Die Anrede
6.0 Die Grüße
7.0 Die Fragen
6.1 Viktor an Florentina
6.2 Florentina an Viktor
8.0 Die Antworten
8.1Viktor an Florentina
8.2Florentina an Viktor
9.0 Fragen / Antworten
10.0 Die Briefe
11.0 Epilog
Eine Begegnung ist ebenso zufällig wie sie anfällig ist. Eine Begegnung ist unabdingbar interkulturell, selbst innerhalb ihres angestammten Kulturkreises. Sie ist ein faszinierend verschwörerisches Phänomen. Bisweilen dämonisierend. Nicht unbedingt persönlich, dafür isolierend. Nicht immer direkt. Bisweilen flüchtig.
Begegnungen bedienen sich des Vakuums vermeintlicher Schnittstellen zweier Individuen auf der Suche nach Glück, nach Gemeinsamkeit, nach Kohärenz.
Begegnung ist eine Illusion des Sich-im-anderen-finden bei gleichzeitigem Sich-im-anderen-verlieren.
Sie ist erschöpfend und Aus-sich-schöpfend. Sie erzwingt die Nacktheit und erhöht den Drang, sich bedecken zu wollen. Sie mündet in einer sich ergebenen Haltung des Fatalismus, der Gewohnheiten, der Schamhaftigkeit, des Verrats an sich und dem anderen.
Eine Begegnung bedingt die Dramaturgie superlativer Ignoranz.
Allein – zweisam – am einsamsten. Verraten.
Florentinas Begegnung mit Viktor ist die Chronik eines von Beginn an sehnsüchtig leidenschaftlichen Aufeinanderzugehens ohne Erreichbarkeit. Getrieben von einer Intensität, die die Gedärme sprengt, von Illusionen getränkt, von tiefem Schmerz malträtiert, die von einer in sich einstürzenden pathologischen Verletztheit zu einem Unterfangen von Wahn und Wahnsinn wird, das sich selbst ad absurdum führt. Das einer großen Feigheit zum Opfer fällt, der nie auch nur der Hauch eines Mutes vorausgegangen ist.
Die Fragmentierung einer Chronologie, die sich ineinander fügt, nie ein Ganzes wird und sich in der Verleugnung verliert, in der Verweigerung.
Florentinas Trauma und Viktors Überleben.
Die Kapitulation auf der Basis einer Intim-Insolvenz. Die Nüchternheit eines Marktplatzes der Täuschungen, der Blendungen, der Lügen, des Abwägens, des Sortierens, des Retouchierens, des Sich-selbst-Überlistens – und das des anderen. Es ist eine Offenbarung der Verzweiflung, der Einsamkeit. Das Versagen der im Ursprung gewachsenen Natürlichkeit, die Zugewandtheit.
Viktor war sich dieses, seines Desasters bewusst. Es war ein Hilferuf, dem noch viele weitere folgen sollten. Es war die Tragik seines Lebens. Eines Lebens, das sich zerfetzte zwischen den Welten, die ihm oktroyiert wurden, seinen Talenten, seiner Empfindsamkeit, seinem Kalkül, seiner Betroffenheit, seinem Getroffensein. Dabei hielt er nur an einer, seiner Welt fest, die sich in zunehmendem Maße verweigerte. Sie verwandelte sich in ein Abziehbild, dessen einzelne Überlagerungen Schicht für Schicht abgetragen werden sollten. Für Viktor war dies eine Häutung bei lebendigem Leib. Er verzieh weder sich, noch den anderen.
War es die ihm eigene Ethik, die ihn hielt? Oder doch die moralische Ästhetik, die er sich disziplinarisch auferlegt hatte? Wo war der Unterschied? Woran sollte er dies festmachen? Selbst wenn er einen Anker gefunden hätte, für Viktor und den anderen in diesem Spiel des Lebens bedeutete dieses Sich-Aufeinander-Einlassen Treiben auf offenem Meer. Sein eigener Strudel hielt ihn gefangen. Riss ihn in nur zu gut gekannte Tiefen. Es war ein wiederholter Absturz sehenden Auges. Dem wollte er entgegenwirken, einen Gegenpol setzen.
Sein Alptraum besaß nach außen hin die Strahlkraft eines märchenhaften Traumes. Diese Illuminierung hielt er aufrecht. Glanz gleich welchen Anstrengungen sie unterlagen. Die bewusst herbeigeführte Illusion erstickte alle aufkommenden Zweifel im Keim beim Adressaten dieser Botschaft. Es war geradezu fahrlässig, auf ein derartiges Angebot nicht zu reagieren.
So erschien es Florentina.
Viktor wusste um die Dramatik dieser Kontaktanzeige. Sie allein und die damit verbundene Hoffnung auf Ablenkung, auf Ein-sich-Öffnen ermöglichten seine Rückkehr aus New York. Man würde die Antworten für ihn sammeln, bündeln, wie er Florentina später erzählte. Seine Rückkehr hatte eine Perspektive. Unter der Last dieser Zuversicht bestieg er den Flieger nach New York, um sich dem Gigantismus dieser Stadt hinzugeben, in das Treiben einzutauchen, um ihm nach wenigen Wochen wieder zu entfliehen und sich der weiteren Askese seines Lebens zu fügen.
Es würde jemand da sein, auf ihn warten, wenn auch zunächst in Form einer Antwort der mit hoffenden, malträtierten Herzen geschriebenen Briefe, so hatte er kalkuliert. Dessen war er sich gewiss. Allein diese Gewissheit hatte ihn bewogen, diese Reise zu unternehmen. Aus der Nähe heraus erschien es ihm unmöglich, all dies abwarten zu können. Er wollte für den Einzelfall nicht einspringen. Das Prinzip des Bündelns übte eine Faszination aus, die weder rational noch emotional begründet war. Somit würde es Alternativen geben, Optionen, aus denen er wählen konnte. Es war die Anonymität der Seelen, auf die er sich einlassen würde. Seine würde auf diese Weise nicht erreicht werden können. Sie war nicht verhandelbar.
Viktor schaffte bereits Distanz, bevor er sich überhaupt auf eine noch nicht definierte und vorstellbare Form der Nähe eingelassen hatte.
Auf meiner Traumreise ...
bin ich Dir begegnet. Einer positiven, dem Leben zugewandten bewusst lebenden Frau, sensibel auch für die leisen Töne, warmherzig. Für die Seelenverwandtschaft kein Fremdwort ist und liebevoll unterstützend, den Mut für einen gemeinsamen Lebensweg findet. Ich bin 58, Skorpion, erfolgreicher Unternehmer und bereit und frei für eine Liebe, die stimmig ist, auf Humor und Tiefe basiert. Arbeite und lebe in Wien.
(Bild-)Zuschriften unter: DIE ZEIT 2873 65 Die Zeit, 20079 Hamburg
Ein Bewerbungsschreiben aus dem Inneren. Gelagert zwischen den Polen intimster Wünsche, geschuldet der Illusion der Auserwählten und dem Wissen um konkurrierende Bedürftigkeit, Kalkuliertheit und existenzieller Absichten.
Florentina war geübt darin, sich auf Wörter einzulassen. Es war ihre Welt. Die Form der Buchstaben zu betrachten, ihre stilistische Perfektion, wenn sie denn gewählt war, hatte etwas Erhabenes, das beim Lesen als aufwertender Begleiter des Inhaltes mitschwang. Florentina zelebrierte die Begegnung mit jedem Buch, das sie beabsichtigte zu lesen, aufs Neue. So wie sie jede Begegnung zelebrierte, bevor sie sich zunächst in ihre Bestandteile und dann in Nichts auflöste.
Vielleicht war dies der Grund dafür, dass sie keine Bücher verlieh, sondern jedem Buch einen integrierten Platz in ihrer Bibliothek einräumte. Eingebettet in bereits vom selben Autor geschriebene Ausgaben oder deren thematische Zuordnung. Es wurde zu einem Ritual feinstofflicher Transformation. Ein Ausleihen hätte Lücken gerissen, die den Gesamteindruck beeinträchtigten. So entstand die für Florentina so wichtige Vertrautheit, die ein jedes Buch aus seinem Aggregat als Gegenstand in seine Gegenstandslosigkeit enthob. War es einmal gelesen und platziert.
Florentina strich zunächst über den Umschlag. Es war vital, dass diese Berührung von Sympathie getragen wurde. Dann entfernte sie den Einband und erkundete das entblößte Hardcover. Sie machte sich mit dem Schriftbild vertraut, dem Papier, seiner Struktur, suchte nach dem eingeschlagenen Leseband, strich es glatt. Versuchte eine weitere Struktur im Aufbau des Buches zu finden. All dies passierte bevor sie ein Buch las.
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