„Ich bin schon auf Wangerooge, Langeoog, Norderney und Juist gewesen“, sagte sie „und ich kann gar nicht sagen, welche Insel mir am besten gefallen hat, ich würde aber, wenn ich noch einmal eine Insel besuche, nach Juist fahren, die Insel ist so ursprünglich und naturbelassen, sie strahlt eine solche Ruhe aus, und wenn die Sonne scheint, macht sie einen alles andere um einen herum vergessen, das habe ich dort jedenfalls so empfunden.“ Sie konnten Kerstholm vor sich liegen sehen und die riesigen Vogelschwärme beobachten, die sich über die Insel erhoben, um sich anschließend wieder niederzulassen und zu ihren Nestern zu fliegen. Der Anleger war eine kleine Landungsbrücke, die recht verwittert war, aber einen sehr soliden Eindruck machte, Thekla sprang von Bord und machte das Boot fest, es sah so aus, als hätte sie das nicht zum ersten Mal getan. Der Kapitän stellte den Bootsmotor ab und sie gingen von Bord. Sie hatten ihn gar nicht bemerkt, als sie anlegten, aber auf der kleinen Landungsbrücke stand Dieter, der die Vogelstation während der letzten drei Monate belegt hatte und froh war, seinen Dienst beenden zu können. Thekla und Dieter kannten sich offensichtlich gut, sie liefen aufeinander zu und umarmten sich, Thekla stellte Dieter Clarissa und Fiete vor und sagte:
„Ich will ihnen die Vogelstation zeigen und ihnen erklären, worin unsere Arbeit auf Kerstholm besteht.“ Dieter ging zu Clarissa und Fiete und schüttelte ihnen die Hand:
„Ich bin erstaunt, dass so junge Menschen wie ihr Interesse an Kerstholm zeigen, wo doch hier nichts los ist, und für die meisten Menschen die Langeweile regiert.“
Dieter hatte eine hochrädrige Karre mitgebracht, die sie mit allen möglichen Dinge beluden, die Thekla während der folgenden drei Monate auf der Insel brauchen würde, das waren neben ihrer Kleidung und anderen persönlichen Dingen vor allem Konserven und für die erste Zeit auch Frischwaren, Gaskartuschen und andere wichtigen Sachen, die ein Überleben auf der Insel erforderte. Die Karre war bis oben hin vollgeladen und alle fassten an, sie zur Vogelstation zu ziehen, nur der Kapitän nicht, der blieb bei seinem Boot und machte die anderen auf die Abfahrtszeit aufmerksam, die bei 16.00 h läge, er müsste dann fahren, weil er bei vollständiger Ebbe nicht durch das Gatt käme. Thekla gab ihm ihr Okay und sie liefen mit der Karre los, zunächst am Wasser entlang und dann in einen Sandweg, durch den sich die Karre nur sehr schwer ziehen ließ. Nach einiger Zeit sah man ein kleines Häuschen, das ein Flachdach hatte und in dem es zwei Zimmer gab, die für eine Person vollkommen ausreichend waren, die Toilette befand sich draußen und war ein Plumpsklo. Vor dem Häuschen stand ein Tisch mit zwei Stühlen, Dieter stellte noch zwei Kisten daran, die am Häuschen lagen und sie setzten sich alle an den Tisch. Dieter berichtete von einigen wenigen Vorkommnissen während der vergangenen drei Monate, viel war nicht passiert und seine Erzählung bezog sich ausschließlich auf das Verhalten der Vögel. Es war für Thekla der zweite Aufenthalt auf einer Insel, sie war also nicht ganz unerfahren im Umgang mit der einfachen Lebensweise, wie sie sie in den folgenden drei Monaten praktizieren würde.
Es herrschte ein unglaubliches Vogelgeschrei um die vier herum, an das sich Clarissa und Fiete erst noch gewöhnen mussten. Thekla und Dieter machte das nichts aus, Thekla war sogar in der Lage, bestimmte Vogelschreie einzelnen Vogelarten zuzuordnen, sie schien sich auf die vor ihr liegende Zeit zu freuen und war fröhlich und guter Dinge. Sie ging ins Häuschen und kochte für alle Tee. Dieter sagte:
„Während der Brut ist auf der Insel ganz schön was los, man hat zu tun, die Vögel zu beobachten und in ihrem Bestand zu erfassen. Es ist interessant, festzustellen, welche Strecken die Zugvögel zurückgelegt haben, einige sind beringt, mithilfe der Ringe kann ich die Flugstrecken zurückverfolgen, und ich habe Nachrichten von sehr weit her erhalten.“ Thekla kam mit dem Tee wieder nach draußen und setzte sich an den Tisch, sie ließ ihren Blick über die Insel schweifen und war zufrieden:
„Das ist mein Leben, sagte sie, wenn ihr alle wieder weg seid, fühle ich mich frei von allem.“ Clarissa und Fiete fragten:
„Können wir nicht einmal einen Gang über die Insel machen?“, und Thekla anwortete, dass sie erst ihren Tee trinken sollten, sie würde sie hinterher führen. Thekla lief mit Clarissa und Fiete auf die andere Inselseite, Dieter blieb bei dem Häuschen, er hatte während der vergangenen drei Monate genug von der Insel gesehen und wollte nicht mitkommen, was man verstehen konnte.
Fiete erwähnte Thekla gegenüber Clarissas Geburtstag am Vortag und Thekla gratulierte Clarissa herzlich:
„Ich wünsche Dir alles Gute, ich erinnere mich gar nicht mehr an meinen eigenen zwölften Geburtstag, ich bin vierundzwanzig und komme mir damit mächtig alt vor.“ Die andere Inselseite war, wie die ganze Insel überhaupt, vollkommen verwildert, es gab zwar einen Strand, der war aber völlig zugewachsen und von den Vögeln in Beschlag genommen. Tausende Vögel brüteten dort, am häufigsten kam die Seemöwe vor, es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen an den Nestern, immer wieder wurde Futter gebracht und man wunderte sich, wie die Vögel unter den tausenden Nestern ihr eigenes fanden. Sie lagen auf den Dünen im hohen Strandhafer und Thekla hatte ihr Fernglas dabei, das sie Clarissa und Fiete gab, damit sie etwas sehen konnten. Sie bemühten sich, so ruhig wie möglich zu liegen, waren aber längst bemerkt worden, sie wurden von Lachmöwen angegriffen und schützten sich, indem sie ihre Arme über ihre Köpfe hielten. Sie erhoben sich vorsichtig wieder und liefen in gebückter Haltung nach hinten ins Inselinnere, sie gingen über kaum sichtbare Pfade, die Thekla aber sicher betrat und kamen an eine Senke, in der es nur so wimmelte von brütenden Vögeln aller Art, man sah dort viele Austerfischer, die zu den weit reisenden Zugvögeln gehörten, Thekla sagte, dass sie bis an die ostafrikanische Küste oder nach Indien zögen.
Die Zugvögel aber, die die meisten Kilometer zurücklegten, waren die Küstenseeschwalben, die es auf eine Kilometerleistung von 50000 Kilometer pro Jahr brachten, manche sogar bis zu 80000 Kikometer. Die Ornithologen auf Kerstholm fingen beringte Vögel, um anhand der Registriernummern Auskunft zu geben, wo sich der Vogel gerade aufhielt, umgekehrt bekamen sie Nachricht über Vögel, die sie selbst beringt hatten und trugen solche Meldungen in ihre Kladde ein, die in der Vogelstation lag. Es gab dort aber auch einen PC mit Drucker, sodass man erhaltene E-Mails ausdrucken konnte. Ansonsten bekamen sie Nachrichten über ihr Satelliten-Handy, das über ein Solarmodul aufgeladen werden konnte, auch der PC lief über Solarstrom. Wenn Vögel gefangen werden sollten, nahmen die Vogelkundler große Netze, in denen sie sich verfingen, meistens fingen sie nur einen Vogel, weil die anderen vor Schreck die Flucht ergriffen. Thekla nahm Clarissa und Fiete mit zur Westspitze von Kerstholm, wohin sie im Nu gelaufen waren, denn die Insel war nicht sehr groß. Dort gab es eine kleine Küstenseeschwalbenkolonie, die Thekla den beiden unbedingt zeigen wollte, weil Küstenseeschwalbe in der Region eher selten waren. Fiete schätzte, dass es sich vielleicht um fünfzig Vögel handelte, die sehr aufgeregt hin- und herflogen. Thekla sagte hinterher:
„Bei meiner letzten Zählung waren es vierundzwanzig Paare, wenn sie sich vermehrt haben, ist es umso besser, dann muss ich von Neuem zählen und den neuen Wert in unsere Bestandskladde übernehmen.“ Sie schlichen über die gesamte Insel zur Station zurück, die im Ostteil lag und trafen auf Dieter, der für alle ein Mittagessen zubereitet hatte, er hatte sich bei Theklas Frischware bedient und einen Salat gemacht, er hatte Kartoffeln gekocht und eine Art Fleischwurstgulasch mit vielen Zwiebeln angerichtet.
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