Sie schauten auf das Meer hinaus und konnten in einiger Entfernung die Vogelinsel Kerstholm erkennen, auf der Opa Stevens schon einmal war, als er noch seinen Beruf als Fischer ausgeübt und im Gatt zwischen den Inseln gefischt hatte. Fiete hatte seinen Freunden und auch Clarissa und Isolde davon erzählt und auch anklingen lassen, dass er sehr gern einmal dorthin wollte, es aber Leuten, die keine Ornithologen waren, praktisch nicht gestattet wurde, nach Kerstkolm zu fahren. Fiete wollte darüber nachdenken, wie er dennoch eine Genehmigung bekommen könnte, sagte das den anderen aber nicht, es war sein fester Wille, einmal nach Kerstholm zu fahren. Es war gerade Flut, das Wasser stand sehr hoch, vermutlich herrschte wegen des Neumondes Springflut, man konnte die gewaltigen Strömungen im Gatt ausmachen, da hineinzugeraten hätte auch für den geübtesten Schwimmer den sicheren Tod bedeutet, das Wasser drückte vom Land weg ins offene Meer hinaus. Es wehte vom Meer her ein warmer Wind, der Clarissa und Isolde in ihre Haare fuhr und sie zerzauste, was sie verwegen aussehen ließ. Sie trugen ihre Haare offen und sie boten deshalb dem Wind eine gute Angriffsfläche. Clarissa strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah dabei Fiete an, der sie die ganze Zeit von der Seite gemustert hatte, sie lächelte ihm zu, und er lächelte zurück. Der Blick auf das Meer hatte für alle etwas Faszinierendes und obwohl Fiete, Jan und die Jungen Inselkinder waren, waren auch sie jedesmal begeistert, wenn sie über das springende Wasser schauten, niemand sprach, während sie über die Wellenkämme blickten.
So saßen sie eine Dreiviertelstunde lang am Strand von Westerhalen und hätten auch noch länger gesessen, wenn nicht die Dämmerung eingesetzt und sie gemahnt hätte, langsam wieder nach Hause zu fahren. Sie hatten sich vorgenommen, am nächsten Tag alle über den Strand wieder nach Westerhalen zu laufen und sich an die gleiche Stelle in den Sand zu setzen, am nächsten Tag wäre um die Mittagszeit Hochflut und sie könnten in aller Ruhe das Meer betrachten. Sie verabredeten sich für 10.00 h am Strandkorb und die Jungen wollten dorthin kommen, jeder sollte einen Rucksack mit Proviant mitnehmen, und sie wollten auch den Kleinmüll aufheben, der dort angeschwemmt worden war. Am Haus Kleen verabschiedeten sie sich voneinander bis zum nächsten Morgen. Clarissa, Isolde, Fiete und Jan gingen ins Haus und spielten noch eine Zeit lang „Mensch ärgere Dich nicht“ und „Kniffel“, bevor sie hoch auf ihre Zimmer gingen und schliefen, die Erwachsenen gingen auch ins Bett, alle waren von der Seeluft müde geworden und schliefen tief und fest. Als Clarissa und Fiete am nächsten Morgen Brötchen holen gingen, schien die Sonne warm vom Himmel und es versprach, ein herrlicher Tag zu werden, sie wurden beide bei Lorenzen sehr freundlich begrüßt, man freute sich dort immer, sie zu sehen.
Jan und Fiete nahmen nach dem Frühstück ihre Rucksäcke, Clarissa und Isolde hatten dieses Mal ihre Eastpacks mitgenommen, und die vier ließen sich von Frau Kleen etwas zu essen und ein Trinkpäckchen geben, damit sie auf ihrer Wanderung in den Westteil der Insel ausreichend versorgt waren. Sie liefen zum Strandkorb und waren um kurz vor 10.00 h dort, als die Jungen eintrafen, alle mit Rucksäcken und Proviant versehen. Man begrüßte sich, sagte den alten Bubenhäusers Tschüss und lief den Strand entlang nach Westen. Unterhalb des „Hotels Süderland“ verließen sie den gepflegten Badestrand und betraten den Wildstrand, der ihnen allen besser gefiel, weil er in den Strandhaferbüscheln den Tieren Unterschlupf bot. An der Stelle, an der die Dünen dicht beieinander standen und hoch aufragten, liefen sie zum Strandsaum und schauten über den Borgelsee zum Fähranleger auf der anderen Inselseite, sie scheuchten hunderte von Vögeln auf. Neben dem Borgelsee stand der imposante Wasserturm, mit dessen Hilfe die gesamte Insel mit Wasser versorgt wurde, er stand auf einer Wasserlinse, die sich unter der Erdoberfläche befand und je nach Niederschlagsmenge mit Wasser gefüllt war. Sie wanderten weiter am Strand entlang und scheuchten jedes Mal Vögel hoch, wenn sie sich ihnen näherten, das ließ sich nicht verhindern, machte den Vögeln aber auch nichts, weil sie auf diesem Teil der Insel nicht brüteten, die meisten Vögel brüteten auf der Insel in den Salzwiesen unterhalb des Flugplatzes.
Sie sahen Kerstholm vor sich liegen und setzten sich alle an der gleichen Stelle in den Sand, an der sie am Vorabend gesessen hatten, die Wellen führten Teufelstänze auf, es war Hochflut und es grauste einen bei der Vorstellung, sich als Schwimmer durch das gischtende Wasser bewegen zu müssen. Die Wellen rollten heran und stießen beim Ablaufen auf nachrückende andere Wellen, was dazu führte, dass sich das Wasser auftürmte und in den Wellenspitzen im Wind zerstob. Mit ohrenbetäubendem Getöse brachen die Wellen auf den Strand und liefen in langen Zungen aus, Möwen, die am Wassersaum entlangliefen, sprangen hoch, wenn sich die Wasserzungen näherten und sie mitzureißen drohten.
Eine Springflut zeigte die Urgewalt des Meeres, der der Mensch hilflos ausgeliefert wäre, wenn er sich nicht durch entsprechende Maßnahmen zu schützen wüsste, so waren auch im Westteil der Insel Buhnen angebracht worden, die die ärgsten Wellen brachen, bevor sie auf den Sand schlugen und möglicherweise Land abbrachen und mit sich ins Meer rissen. Lediglich die Westspitze, an der die Kinder saßen, war ohne Buhnen, weil diese Stelle nicht direkt dem offenen Meer zugewandt war, die Wellen deshalb gewöhnlich mit verminderter Kraft dort aufliefen. Bei einer Springflut aber herrschten andere Verhältnisse, das Meer schien nicht den Gesetzen der Physik zu folgen und scheinbar einem eigenen Willen gehorchend, auch über die Westspitze herzufallen, das Gatt war eine einzige weiße Gischt.
Die Kinder zogen ihre Proviantpäckchen aus den Rucksäcken und begannen, ihre Esspakete zu vertilgen, ganz ohne Worte, alle waren ergriffen von dem Geschehen, dass sich vor ihren Augen in seiner Urgewalt abspielte. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, war aber immer noch warm, Clarissa und Isolde hatten ihr Haar zu Pferdeschwänzen zusammengebunden, sodass es nicht zerzaust werden konnte. Nachdem sie ihr Essen eingenommen und die Papiertüten, in die das Essen eingewickelt war, wieder in die Rucksäcke gelegt hatten, begann jeder damit, Kleinmüll aufzulesen und in seinem Rucksack zu verstauen. Da jeder einen Rucksack mit hatte, bekamen sie bei diesem Mal eine beträchtliche Müllmenge zusammen, die sie bei ihrer Rückkehr ins Dorf in den Großcontainer neben der Kirche schütten wollten. Am Schluss gab es acht prallgefüllte Rucksäcke, die trotz der Menge Mülls, die sie enthielten, leicht waren und niemanden beim Gehen behinderten, der Müll war ja angeschwemmt worden und deshalb von seinem spezifischen Gewicht her leichter als Wasser. Die Kinder setzten ihre Rucksäcke wieder auf und liefen zum Fähranleger, gingen über die Bohlen zur Spitze und setzten sich dorthin, um in der Ferne die „Süderland I“ zu beobachten, wie sie sich ihre Bahn durch die Springflut brach. Es würde noch ungefähr eine halbe Stunde dauern, bis die Fähre am Anleger festmachte, und die Kinder spielten so lange „Stadt, Land, Fluss“ ohne aufzuschreiben, Isolde und Jan hatten sich abseits hingesetzt, weil sie bei dem Spiel gegen die anderen keine Chance hatten.
Clarissa ging als klare Siegerin aus dem Spiel hervor, weil sie eine Koryphäe in Geographie war und ihr deshalb sofort Städte, Länder und Flüsse einfielen, sie schlug die Jungen um Längen. Die „Süderland I“ war inzwischen nahe am Anleger angekommen, es befand sich niemand an Deck, weil die Gischt über die Reling wischte und an Deck alle ordentlich durchnässt hätte. Herr Kleen hatte auf seiner Brücke die Scheibenwischer eingeschaltet, um durch das anstiebende Wasser etwas sehen zu können. Er drehte das große weiße Schiff im Hafenbecken und der Matrose machte es in entgegengesetzter Fahrtrichtung fest, er belegte auf den beiden auf dem Anleger befindlichen Pollern. Es wurde eine Planke vom Schiff auf die Anlegerbohlen gelegt, und die Passagiere gingen von Bord. Alles strömte zum Inselbähnchen, das am Anfang des Anlegers wartete und die Touristen und ihr Gepäck aufnahm, um sie ins Dorf zu bringen, und als der Letzte verschwunden war, kam Herr Kleen von Bord und begrüßte die Kinder. Er hatte eine Thermoskanne Kaffee und Brote dabei und setzte sich zu ihnen, er schüttete sich einen Becher Kaffee ein und aß von seinen Broten, während Fiete ihm erzählen musste, was die anderen und er so getrieben hätten. Fiete berichtete:
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