»Ihre Freundin ist nach vorläufigen Erkenntnissen nicht vergewaltigt worden, doch man hat sie stranguliert.«
Birgit kamen erneut die Tränen. »Was für ein schrecklicher Tod«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es muss furchtbar sein, keine Luft mehr zu bekommen.«
Valerie nickte. »Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Ihrer Freundin das angetan haben könnte? Vielleicht ein Exfreund?«
Birgit Schubert schüttelte verneinend den Kopf. »Wie gesagt, wir haben uns auch schon den Kopf zerbrochen. Aber Danielas Beziehungen sind immer friedlich auseinandergegangen. Man hat sich eben geirrt oder jeder in eine andere Richtung entwickelt, wie das heute so läuft. Teilweise hält der Kontakt aber noch immer an, auf freundschaftlicher Basis. Da gab es keinen, der sie hinterher bedroht hat. Das kann ich mit Bestimmtheit sagen.«
»Wie lange kennen Sie sich schon? Seit der Schulzeit?«
»Nein, ich bin ja zwei Jahre jünger und hier in Pankow zur Schule gegangen. Daniela am Wedding. Wir haben uns als Teenager beim Sport kennengelernt. Wir waren beide im selben Handballverein. Nach meiner Heirat bin ich mit meinem Mann hier in dieses Haus gezogen. Daniela hat sich erst vor knapp einem Jahr eine Wohnung in der Wollankstraße genommen. Seitdem haben wir uns regelmäßig gesehen und viel Zeit miteinander verbracht, denn mein Mann mochte sie auch. Nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Er hat einen ganz anderen Typ, eben so wie mich. Aber menschlich haben sie sich gut verstanden.«
»Haben Sie gestern alle drei Kaffee getrunken?«
»Nein, mein Mann ist erst später von der Arbeit gekommen, da war Daniela schon weg.«
»Wann genau kam Ihr Mann nach Hause?«
»So gegen neun. Warum? Sie denken doch nicht etwa … Ich sage doch, er stand nicht auf Daniela. Und ein Mörder ist er schon gar nicht.«
»Wir würden uns gerne mit ihm persönlich unterhalten. Richten Sie ihm bitte aus, er möge sich bei uns auf dem Präsidium melden.«
»Ja, wenn Sie darauf bestehen … Aber es ist einfach lächerlich. Er hätte Daniela nie etwas angetan … überhaupt keiner Frau.«
Ben hatte am Abend noch immer schlechte Laune wegen des verpatzten Morgens. Und dass er von der Schule mit der BVG zurückfahren gemusst hatte, gefiel ihm überhaupt nicht.
»Warum steht das Mistding eigentlich immer noch hier herum?«, fragte er, als er mit dem Fuß gegen den Kratzbaum stieß. »Minka ist doch schon eine ganze Weile tot und kommt bestimmt nicht wieder.«
»Vielleicht mäßigst du dich etwas in deinem Ton«, sagte Valerie böse. »Minka hat uns jahrelang die Treue gehalten und war länger bei uns als du, falls dir das nicht bewusst ist. Wir können sie nicht einfach so vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Außerdem hat dein Vater mir damals die Katze geschenkt, deshalb überlasse ich ihm, ob und wann es eine Nachfolgerin geben wird. Du scheinst sie als Einziger nicht sonderlich zu vermissen.«
»Katzen leben nun mal nicht ewig …«
»Das ist alles, was du zu sagen hast? Mir scheint, Trauer scheint nicht so dein Ding zu sein. Als Cäsar starb, hast du auch keine Träne vergossen …«
»Ich durfte ihn ja damals nicht behalten. Lieber habt ihr ihn einem fremden Mann gegeben …«
»Dieser fremde Mann lebt immerhin mit deiner Großmutter zusammen, und ein besseres Herrchen hätte sich Cäsar nicht wünschen können.«
»Na, dann ist doch alles gut …«
»Gar nichts ist gut, ihr habt in den letzten Jahren ungezählte Stunden gemeinsam verbracht, in denen ihr gespielt und herumgetollt habt. Ich dachte, es wäre so etwas wie ein Freund für dich gewesen.«
»Was wird das jetzt hier, eine Grundsatzdiskussion?«, fragte Ben frech.
»Wenn du so willst, ja. Ich habe dich zwar geboren, frage mich aber die letzte Zeit, ob ich dich wirklich kenne.«
»Dann hättest du es eben lassen sollen. Abtreibungen sind doch bei euch Frauen an der Tagesordnung.«
»Du hältst jetzt sofort deinen frechen Mund. Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Ich habe lediglich bemerkt, dass von dir eine emotionale Kälte ausgeht, die mir Angst macht. Das Grab deines Großvaters hast du noch nicht ein einziges Mal besucht und das von Tante Marion auch nicht, soviel ich weiß.«
»Was weißt du schon? Sie haben schließlich nichts mehr davon, wenn man ihre Gräber besucht. Und lass die Tante weg, für mich war es immer Marion.«
»Danke für die Belehrung. Du kannst in dein Zimmer gehen und über deine Frechheit mir gegenüber nachdenken. Dein Abendbrot bringt dir dein Vater.«
»Entschuldige, dass ich nicht unsichtbar bin …«
Valerie griff das erste beste Stück, das sie erreichen konnte, in diesem Fall eine Illustrierte, die sie nach Ben warf. Der wich geschickt aus und verschwand grinsend.
»Was ist denn mit euch beiden los?«, fragte Hinnerk, der gerade aus dem Bad kam.
»Dein Sohn ist frech, aufsässig und ich fürchte, ein emotionsloses Monster.«
»Na, na, immer langsam mit den jungen Pferden. Schließlich ist er auch dein Sohn. Was meinst du mit emotionsloses Monster?«
»Er kann einfach keine Trauer empfinden. In kurzer Folge haben wir zwei geliebte Haustiere verloren, und es geht ihm am Arsch vorbei. Und die Gräber von seinem Opa und von Marion existieren für ihn nicht.«
»Du weißt doch gar nicht, ob er trauert. Vielleicht zeigt er es nur nicht. Seine Kumpel würden es sicher uncool finden, wenn er sich seine Trauer anmerken ließe. Und zum Thema Friedhöfe: Du weißt, dass das Verhältnis zwischen Ben und deinem Vater nicht das beste war. Mehr als einmal hat Christoph seinen Enkel im Pflegeheim nicht erkannt oder ihn sogar aus dem Zimmer gewiesen.«
»Das lag an seiner Krankheit und nicht daran, dass er Ben nicht mochte.«
»Für ein Kind macht das keinen Unterschied. Er fühlte sich einfach abgelehnt. Und unter uns gesagt, dass deine Mutter sich so schnell mit einem anderen Mann getröstet hat, wird ihm auch mehr als seltsam vorgekommen sein.«
»Herbert ist für Karen ein wahrer Glücksfall. Erinnere dich an ihre Alkoholprobleme, als Papa sie verlassen hatte. Und die beiden verbindet ein ähnliches Schicksal. Herbert hat auch seine Frau verloren, weil sie unter derselben Krankheit wie Papa litt.«
»Das weiß ich doch. Aber versetze dich in die Lage eines Neunjährigen, der sieht, wie seine Oma so kurz nach dem Tod ihres Mannes sich einem anderen zuwendet. Vom Verstand her konnte er das bestimmt nicht begreifen. Und im Falle von Marion tust du ihm Unrecht. Ich habe schon öfter einen Strauß Freesien auf ihrem Grab gefunden. Du weißt, dass Ben diese Blumen sehr mag. Er hat Marion schon zu Lebzeiten öfter welche mitgebracht.«
»Hätte ich mir denken können, dass du ihm die Stange hältst. Doch das entschuldigt nicht seine Frechheit mir gegenüber. Sein Abendessen kannst du ihm jedenfalls bringen. Ich habe keine Lust, ihn heute noch einmal zu sehen.«
Valerie übersah in ihrer Enttäuschung und Hilflosigkeit, dass sie Ben tatsächlich Unrecht tat. Nach Minkas Tod hatte er nächtelang geweint, es aber vor den Eltern verborgen. Ähnlich hatte es sich verhalten, als Cäsar, der liebe Labradorrüde, gestorben war. Valerie hatte ihn damals kurzfristig aufgenommen, als sie und Hinnerk Cäsars Herrchen des mehrfachen Mordes überführt hatten. Bens Enttäuschung war grenzenlos gewesen, dass er ihn nicht behalten durfte. Es war schließlich ein gewaltiger Unterschied, ob ein berufstätiges Ehepaar eine Katze oder einen Hund hielt, denn der brauchte Auslauf und konnte tagsüber nicht sich selbst überlassen werden. Da war es eine mehr als glückliche Fügung gewesen, dass Herbert Schindler, der neue Lebensgefährte von Valeries Mutter Karen, einen Narren an Cäsar gefressen hatte und ihn nicht mehr missen wollte.
Mit den Friedhöfen war es eine andere Sache. Die gehörten nun mal nicht zu den Lieblingsorten von Dreizehnjährigen. Wenn Ben hin und wieder seine Abneigung überwand, dann nur, weil er Marion ehrlich gemocht hatte. Doch da er wusste, wie seine Mutter darauf reagierte, sprach er nicht darüber, wie sehr er die Freundin seines Vaters vermisste. Und seinen Vater mochte er darauf nicht ansprechen, weil er wusste, wie sehr Hinnerk der Tod von Marion zu schaffen machte. Alles in allem nur dumme Missverständnisse. Doch ein bisschen genoss es Ben auch, sich von seiner Mutter missverstanden zu fühlen. Bestätigte es doch seine Meinung über Erwachsene. Über die schwierige Zeit der Pubertät konnte er ohnehin nur mit seinen Kumpels reden, wenn überhaupt, denn die gingen ihm gelegentlich ebenfalls gehörig auf die Nerven.
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