Die Zeit danach war eine harte Prüfung für beide gewesen, denn Hinnerk hatte sich an Marions Tod die Schuld gegeben und war depressiv geworden. In der Wohnung seiner Freundin oder einem Hotel hatte er nicht bleiben wollen und war zu Frau und Kind zurückgekehrt. Mit viel Geduld und Spucke, wie man in Berlin sagte, war es Valerie schließlich gelungen, Hinnerks Lebensgeister wieder zu wecken. Seitdem waren sie glücklich miteinander, auch ohne Trauschein.
Nur der dreizehnjährige Ben hatte sich von einem bezaubernden Kleinkind zu einem nörgelnden, schlecht gelaunten Teenager entwickelt. Valerie und Hinnerk hofften jedoch, dass die Phase nicht allzu lange anhalten würde.
Auf halbem Weg zu Bens Schule meldete sich Valeries Handy. »Voss, was gibt’s?«, meldete sie sich wie üblich. »…Wo ist das…? Verstehe, wir sind gleich da. Wir haben einen neuen Fall«, wandte sie sich an Hinnerk. »Ben, wir müssen dich leider hier rauslassen. Doch du kannst dir ausnahmsweise ein Taxi nehmen. Nur heute, damit das klar ist. Das nächste Mal kommst du eben zu spät zur Schule, wenn du wieder bummelst.«
»Den kleinen Schlenker könntet ihr ruhig noch machen«, maulte Ben.
»Nein, wir müssen gleich weiter. Also, Taxi oder zu Fuß?«
»Taxi natürlich, ich kann schließlich nichts dafür, dass eure Arbeit schon wieder ruft …«
»Wo müssen wir hin? Erzähl schon«, sagte Hinnerk, als Ben ausgestiegen war.
»Nach Pankow in den Bürgerpark. Weibliche Leiche, die Kollegen sind schon vor Ort. Der Haupteingang ist in der Wilhelm-Kuhr-Straße. Am besten du fährst über Wollankstraße …«
»Danke, Schatz, das Navi wird uns ohne Probleme hinbringen.«
Als sie kurz darauf im Park ankamen, hatte die Spurensicherung schon das Gelände weitläufig abgesperrt. An einem dichten Gebüsch machte sich bereits Rechtsmedizinerin Tina Ruhland an der Frauenleiche zu schaffen.
»Ach, sieh an, unsere Hauptkommissare Hanni und Nanni. Euch kriegt man wohl seit eurer Versöhnung wiederum nur im Doppelpack …«
»Das liegt in der Natur der Sache, wenn man in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Dir auch einen schönen guten Morgen«, sagte Valerie.
Tina und Valerie hatten vor vielen Jahren ein Verhältnis gehabt, das Valerie nach der Heirat mit Hinnerk abrupt beendet hatte. Ein Stachel, der bei Tina tief saß, obwohl sie sich inzwischen mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom tröstete, was mittlerweile ein offenes Geheimnis war. Trotzdem warf sie immer noch gelegentlich Spitzen, was Valerie gehörig nervte.
»Wer ist die Tote und welche Todesursache liegt vor?«, fragte Hinnerk, um die beiden Frauen nicht noch zu mehr spitzen Reden zu ermuntern.
»Daniela Wilke, 30, wohnhaft in der Wollankstraße, Nummer … Todesursache: Ersticken durch Strangulation, wie der Kabelbinder um ihren Hals beweist. Todeszeitpunkt: etwa zwanzig Uhr. Da will ich mich aber aus bekannten Gründen nicht festlegen.«
»Schon klar, warum hat es so lange gedauert, bis man sie gefunden hat?«
»Das müsst ihr die Kollegen von der Spusi fragen. Ich vermute aber, dass es zwei Gründe gibt. Einmal das regnerische Wetter, da kommen kaum Spaziergänger vorbei, und die etwas versteckte Lage. Für Jogger war die Leiche vom Weg aus kaum zu erkennen.«
»Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen«, sagte Manfred Hoger von der Spurensicherung.
»Hallo, guten Morgen, also hat sie kein Jogger gefunden?«
»Morgen, doch, reiner Zufall, weil ihn ein dringendes Bedürfnis geplagt hat.«
»Hat die Leiche genau so dagelegen oder hast du sie bewegt?«, wollte Valerie von Tina wissen.
»Nein, ich bin ja nicht von gestern«, antwortete Tina. »Bevor keine Fotos gemacht worden sind …«
»Dann ist sie nicht extra drapiert worden, wie es öfter vorkommt. Womöglich noch mit gefalteten Händen oder Blumen darin«, überlegte Valerie laut. »Sieht eher so aus, als habe der Täter sie wie Lumpen oder Müll entsorgt. Wahrscheinlich ein Zeichen seiner Verachtung. Glaubt ihr, Fundort ist gleich Tatort?«
»Mit großer Wahrscheinlichkeit. Jedenfalls gibt es keine erkennbaren Schleifspuren«, meinte Manfred. »Der nächtliche Regen hat allerdings die meisten Spuren beseitigt. Doch, wenn ihr mich fragt, ist es nahezu unmöglich, die Leiche unbemerkt von der Straße aus bis hierhin zu schaffen. Es ist eher davon auszugehen, dass der Täter der Frau hier aufgelauert hat.«
»Und augenscheinlich hat sie sich nicht gewehrt«, sagte Tina. »Es gibt keine Kampfspuren und auf den ersten Blick kein fremdes Gewebe unter ihren Fingernägeln.«
»Demnach könnte sie den Täter gekannt haben«, überlegte Valerie laut, »vielleicht haben sie sogar gemeinsam den Park aufgesucht, und es hat unterwegs Streit gegeben … Ich frage mich andernfalls, was eine Frau veranlassen könnte, am Abend allein durch den dunklen Park zu gehen …«
»Sehnsucht nach Abgeschiedenheit, Depressionen …« Hinnerks Stimme klang völlig emotionslos. »Hatte sie ein Handy dabei?«
»Jep, bitte schön!«, Manfred überreichte Hinnerk eine Plastiktüte mit einem einfachen Handy darin.
»Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie irgendwelche Nachrichten erhalten hat …« Hinnerk rief die Mailbox auf, woraufhin eine weibliche Stimme mitteilte, dass Daniela vier neue Nachrichten hatte.
»Ich bin’s, Birgit. Warum hast du dein Handy nicht eingeschaltet? Eigentlich müsstest du doch schon längst zu Hause sein. Doch über Festnetz erreiche ich dich nicht. Bist du etwa doch durch den Park gegangen und dem Traumprinzen begegnet? Melde dich, mache mir langsam Sorgen«, lautete die erste Nachricht. Die weiteren drei waren allesamt von derselben Person und klangen zunehmend panisch.
Hinnerk durchsuchte das Telefonregister und fand auf Anhieb eine Birgit darunter. Sogleich stellte er die Verbindung her.
»Na endlich, wo steckst du denn? Habe bis in die frühen Morgenstunden versucht, dich zu erreichen. Hallo …? Daniela …?«, erklang eine sympathische Stimme am anderen Ende der Verbindung.
»Hier spricht Kommissar Lange vom LKA. Nennen Sie mir bitte Ihre vollständige Adresse und Ihren Namen …«
»LKA? Ich verstehe nicht. Ist Daniela etwas passiert?«
»Würden Sie bitte meine Frage beantworten? Wir sind dann gleich bei Ihnen.«
»Ja, ich heiße Birgit Schubert und wohne in der Heinrich-Mann-Straße, Nummer … Das ist gleich hinter dem Bürgerpark.«
»Gut, warten Sie bitte auf uns!«
Nachdem Valerie und Hinnerk sich noch einmal mit der Rechtsmedizinerin und den Kollegen von der Spurensicherung unterhalten hatten, um die neuesten Erkenntnisse zu erhalten, machten sie sich auf den Weg zu Birgit Schubert. Sie wurden bereits von einer hübschen, jungen Frau ungeduldig erwartet, die vom Weinen gerötete Augen hatte. Schon im Flur des gemütlichen Eigenheims wollte Birgit wissen, wie die Kripo an Danielas Handy kam.
»Es tut uns leid. Ihre Freundin ist heute Morgen im Bürgerpark tot aufgefunden worden«, sagte Valerie.
»Was hat man ihr angetan? Ist sie vergewaltigt worden? Hach, ich habe so sehr auf sie eingeredet, nicht die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Es kam doch wirklich nicht darauf an, ob sie ein paar Minuten früher zu Hause ankam ... Noch dazu, wo sie sich seit Tagen verfolgt fühlte.«
»Demnach hat Frau Wilke den frühen Abend hier bei Ihnen verbracht?«, fragte Hinnerk.
»Ja, wir haben nachmittags zusammen Kaffee getrunken. Dabei hat sie mir von ihrem Verfolger erzählt.«
»Was genau? Kannte sie den Mann?«
»Nein, ihr gegenüber hat er sich ja nicht blicken lassen. Trotzdem spürt man doch irgendwie, wenn man beobachtet wird. Das ging schon ein paar Tage so. Wir haben noch zusammen überlegt, wer es sein könnte. Ich wollte wissen, ob sie einen Verehrer abgewiesen hat, oder ob sich ein verflossener Lover wieder gemeldet hat. Beides hat Daniela verneint. Vielleicht kannte sie den Mann gar nicht. Es soll ja so Verrückte geben, die sich in einen verlieben, ohne einen zu kennen. Aber sie haben mir noch nicht gesagt, was man ihr angetan hat …«
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