»Kyle, Lauren, schaut mal!«, rief er aus und deutete zitternd, mit seinem ausgestreckten Zeigefinger, auf das Wandbild.
Er war blass geworden.
»Was ist denn los?«, fragte Maxwell ihn aufgeregt. Er verstand nicht sofort, worauf Lawson hinauswollte.
»Da!«
Jetzt war es nicht mehr zu übersehen und sie sahen es auch!
Die gläserne Sonnenscheibe auf dem Fresko hatte sich verfärbt. Mit einem Mal strahlte sie in hellem Rot. Funken schienen aus dem Glas zu sprühen. Der ganze Rittersaal war in ein gespenstisches Licht getaucht.
»Das ist ja echt unheimlich!«, stieß Lauren Pritchard aus und starrte wie gebannt auf die Sonne.
Erstarrt standen die drei Archäologiestudenten vor dem Gemälde. Auch Finn Donovan, Shane Miller und Celia Pike hatten den Aufschrei ihres Studienkollegen gehört und waren inzwischen nähergekommen. Auch sie bemerkten jetzt das unheimliche Feuer in dem Wandbild.
»Das ist ja mal krass«, entfuhr es Celia Pike. »Völlig abgefahren!«
»Was kann das nur sein?«, flüsterte Lauren Pritchard. Sie drängte sich dicht an den einen Kopf größeren Kyle Maxwell, aber der nahm davon gar keine Notiz. Finn Donovan hatte sich auf den Griff eines Spatens gestützt und starrte wie gebannt auf das Fresko.
Ehe sich die Sechs versahen, war der Spuk auch schon wieder vorbei. Wie zuvor schimmerte das Glas dunkelrot im Sonnenlicht. Keiner von ihnen konnte genau sagen, wie lange die seltsame Erscheinung gedauert hatte. Es schien als würden sie aus einem Bann erwachen, der sie gefangen gehalten hatte. Irritiert sahen sie sich an. Der Appetit auf ein Mittagessen war ihnen gründlich vergangen.
Shane Miller war der erste unter ihnen, der wieder einen klaren Gedanken fassen konnte.
»Merkwürdig«, murmelte er. »So etwas Eigenartiges habe ich noch nie erlebt. Es war ja fast so, als ob das Gemälde die Mittagssonne begrüßen wollte.« Er schmunzelte. »Wer auch immer sich das ausgedacht hat, eine echt verrückte Idee, das muss man ihm neidlos zugestehen!«
»Stimmt«, nickte Miller. »Völlig irre!«
»Kann es nicht sein, dass uns irgendetwas geblendet hat?«, meinte Lauren Pritchard und sah die anderen fragend an. Das Ganze hatte sie sichtlich mitgenommen und sie war immer noch sehr bleich, bemühte sich aber der Sache eine natürliche Erklärung zu geben.
»Könnte durchaus möglich sein«, erwiderte Lawson. »Auf jeden Fall sollten wir einmal genauer untersuchen, was es mit dieser Sonne auf sich hat.« Er dachte einen Augenblick nach. »Ich werde später Professor Alverston anrufen und ihn bitten, doch selbst herzukommen. Vielleicht hat er eine plausible Erklärung.« Dann schmunzelte er. »Aber nun schlage ich vor, dass wir uns nach dem Schreck ablenken und etwas zu Mittag essen.«
»Also mir ist darauf die Lust echt vergangen«, wehrte Donovan ab. Er lachte krampfhaft. »Ich kann mir einfach beim besten Willen nicht vorstellen, dass es sich tatsächlich nur um einen Sonnenreflex gehandelt haben soll. Und ich gebe zu, ich bin froh, wenn ich nach alledem noch eine Tasse Tee hinunter bekomme.«
Lächelnd stieß ihm Lauren Pritchard leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.
»Dann mache ich uns mal welchen«, schlug sie vor. Sie hatte in der kleinen Gruppe die Aufgabe der Köchin übernommen. »Und bis ich soweit bin, haben wir uns hoffentlich alle wieder etwas beruhigt ...«
Sie brachte den Satz nicht zum Ende. Ein grauenhafter Schrei ließ sie herumwirbeln. Gellend hallte er zu ihnen herüber. Es war ein Schrei, wie ihn keiner der Archäologiestudenten jemals zu Ohren bekommen hatte. Schrill und gurgelnd. Der panische Schrei eines in Todesangst versetzten Menschens!
Und dann war es plötzlich ruhig.
Es herrschte Stille!
Eine unheimliche Stille!
Und sie machte Angst, weil sich überhaupt nichts verändert zu haben schien.
Die hoch am Himmel stehende Sonne warf ihre hellen Strahlen in den Burghof wie zuvor. Und auch die Vögel zwitscherten weiter, in den sich leicht im Wind wiegenden Baumwipfeln. Aus der Ferne klang das Gurren einer Taube zu ihnen herüber.
Alles schien friedlich, gerade so, als wäre nichts geschehen.
Unwillkürlich waren die sechs jungen Studenten zusammengezuckt. Dicht gedrängt standen sie beieinander. Sie waren unfähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Sie alle starrten nach Westen, fixierten mit ihren Blicken den alten Wohnturm mit seinem Bergfried, aus dessen Richtung der fürchterliche Schrei gekommen war. Dort, wo die alten Buchen und knorrigen Eichen so dicht beieinanderstanden, musste etwas Grauenhaftes geschehen sein.
»Das klang ja schrecklich«, flüsterte Celia Pike kaum hörbar. »Gerade so, als sei jemand umgebracht worden ...«
»Jetzt mache aber mal einen Punkt, Celia! Rede doch nicht so einen Unsinn!«, fiel Lawson ihr barsch ins Wort. »Es wurde niemand umgebracht! Weiß der Teufel, wer oder was da eben so geschrien hat. Vermutlich war es nur ein krankes Tier.«
»Nein, Alex!«. schrie Lauren Pritchard ihn hysterisch an. »Das war ganz bestimmt kein Tier! Da hat ein Mensch geschrien! Celia hat vollkommen Recht!« Sie warf den anderen einen auffordernden Blick zu. »Los, lasst uns nachsehen! Schnell!«
»Na, meinetwegen«, beschwichtigte Lawson, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte. »Ich gehe und sehe nach. Shane kommt mit. Ihr anderen bleibt solange hier. Es ist nicht nötig, dass wir deswegen alle in den Wald rennen.« Er klopfte Shane Miller auf die Schulter. »Na los, komm!«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich den Pickel mitnehme. Nur so zur Sicherheit?«, fragte Miller und warf einen Blick in Richtung des Werkzeugs. Sein Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren. »Wer weiß, vielleicht haben die Mädels ja wirklich Recht, und im Wald läuft tatsächlich ein Killer herum.«
»Du bist ein echter Vollidiot!«, entfuhr es Lawson verärgert.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte los. Shane Miller folgte ihm dicht auf. Seine Fäuste umklammerten die schwere Spitzhacke, die er einsatzbereit vor seiner Brust hielt.
Celia Pike, Lauren Pritchard, Kyle Maxwell und Finn Donovan blieb nichts Anderes übrig als ihren beiden Studienkollegen verunsichert hinterherzusehen, die gerade zwischen den ersten Baumreihen verschwanden.

Kapitel 5
P
rofessor Francis Alverston hatte die altmodischen hohen Fenster in seinem Arbeitszimmer in der Universität weit geöffnet, um die warme Luft des sonnigen Herbsttages in den Raum zu lassen. Alverston war ein kleiner, hagerer Mann mit einem silbergrauen Schnurbart, den er an den Seiten fein aufzwirbelte und einrollte. Sein Gesicht wurde umrahmt von ebenfalls silbrigen und sehr buschigen Koteletten. Auf seiner Nase trug er eine feine Hornbrille. Der vierundsechzigjährige Mann, mit dem leichten Bauchansatz, saß hinter seinem massiven Mahagoni-Schreibtisch aus der Tudor-Ära. Konzentriert studierte er eine vor sich auf dem Tisch liegende Abschrift eines alten Pergaments. Ab und zu nahm er ein Vergrößerungsglas zur Hand und betrachtete einige Stellen darauf besonders eingehend.
Gerade hatte er wieder die Lupe zur Hand genommen, als es energisch an der Tür klopfte.
»Herein!«, rief er resolut. Ein neugieriger Blick über den Brillenrand studierte den Besucher.
Ein Mann von mittelgroßer, schlanker Statur und mit ungewöhnlich stark ausgeprägten Augenbrauen trat ins Zimmer.
»Hallo, Francis!«, grüßte der Eindringling und reichte dem Professor die Hand, der trotz seines fortgeschrittenen Alters förmlich aus seinem Ledersessel geschnellt war, den Schreibtisch umrundet hatte und ein paar Schritte auf den Mann im Trenchcoat zu gemacht. Er erwiderte dessen kräftigen Händedruck.
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