„Ivette, du bist doch noch so jung, du musst wieder nach vorn schauen.“
„Lass dich nicht so hängen, du verliebst dich sicher wieder neu.“
Sogar ihre Mutter hatte in diesen Chor mit eingestimmt. Aber Ivette hatte nichts davon hören wollen und war immer tiefer abgerutscht. Die Summe, durch ihren Kaufrausch verursacht, ließ sie leise aufstöhnen. Dreißigtausend Euro.
Sie fragte sich noch heut, wieso ihr die Banken überhaupt Kredite gewährt hatten, wo doch so offensichtlich war, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich hatten diese Finanzhaie auf das wertvolle Grundstück und ihr vorhersehbares Versagen spekuliert. Irgendwann gingen bei ihrem Arbeitgeber die Pfändungen ein und Ivette erhielt die fristlose Kündigung. Die Banken hatten gewonnen.
Doch dann erhielt sie einen merkwürdigen Anruf, der ihr Leben von Grund auf verändern sollte. Sie unterschrieb den Vertrag mit einer Verschwiegenheitsklausel, die es in sich hatte. Dafür wurden all ihre Schulden auf einen Schlag getilgt und sie durfte im Gegenzug ihren neuen Job antreten.
Sie erhob sich und wankte in die Küche, wo sie sich ein Glas Wein einschenkte und es in einem Zug hinunterstürzte. Wenn das so weiterging, fing sie wahrscheinlich auch noch mit dem Trinken an. Eine Sucht löste quasi die nächste ab.
Im Badezimmer ließ sie sich ein Wannenbad ein und versank im Schaum. Das Lavendelöl duftete angenehm und die Wärme lullte sie ein.
Bevor sie Jörg kennengelernt hatte, war sie im Rostocker Kinderwunschzentrum angestellt. Sie hatte bei der künstlichen Befruchtung assistiert und die Paare betreut. Im Prinzip der gleiche Ablauf, nur dass es jetzt keine Paare gab, sondern junge Mädchen. Das Monatsgehalt war für diese Region ausgesprochen großzügig und sie könnte sich sogar die eine oder andere Shoppingtour leisten, wenn sie es denn weiterhin gewollt hätte.
All ihre Sorgen hatten sich in Luft aufgelöst und trotzdem ahnte sie, dass sie auf einem Pulverfass saß. Seit sie diesen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, fühlte sie sich bei jedem ihrer Schritte beobachtet.
Wie gern hätte sie mit Jörg darüber gesprochen, sich ihm anvertraut. Aber das Schicksal hatte ja seine eigenen Pläne. Sie lachte verbittert auf. Sie hatte früher Paaren zu ihrem Kinderwunsch verholfen, doch ihr selbst war dieses Glück verwehrt geblieben.
Sie hing an diesem Häuschen, Jörg hatte so viel Zeit und Energie in den Bau gesteckt. Egal was das Leben noch mit ihr vorhatte, sie musste sich jetzt zusammenreißen und das Beste daraus machen, Witwe hin oder her.
Marlene steuerte fahrig ihren Wagen durch die Innenstadt. Den Kredit hatte sie an Land ziehen können und jetzt hoffte sie inständig, dass ihre Finanzen ausreichten, um den Privatdetektiv angemessen zu entlohnen.
Noch nie in ihrem Leben war sie so durcheinander gewesen, wie in diesem Augenblick. Was würde er ihr am Ende des Gespräches mitteilen? Dass es Sinn machte, nach Marie zu suchen, oder würde er all ihre Hoffnungen zerstören?
Mia hatte fest versprochen, Frank nichts davon zu erzählen. Auf weitere Meinungsverschiedenheiten mit ihm konnte sie getrost verzichten.
Sie quetschte den Wagen in eine Parklücke und stieg aus. Es war ein wunderbarer Sommertag und die Sonne strahlte vom Himmel. Das musste einfach ein gutes Omen sein. Sie setzte die Sonnenbrille auf, hängte die Tasche über ihre Schulter und lief los. Der Detektiv hatte ein Treffen auf neutralem Boden vorgeschlagen und der Park war ihre erste Wahl gewesen.
Marlene näherte sich dem vereinbarten Treffpunkt und verlangsamte ihre Schritte. Wie ärgerlich, ein attraktiver Zeitgenosse hatte es sich schon auf der Bank bequem gemacht. In einem gebührenden Abstand blieb sie stehen und wartete.
Der Mann kontrollierte mehrmals die Uhrzeit und sah sich suchend um. Dann trafen sich ihre Blicke.
„Marlene Sanders?“
Sie räusperte sich verlegen und eine zarte Röte legte sich auf ihre Wangen. „Entschuldigung, ich war mir nicht sicher, ob Sie ...“
„Thomas Fields, Privatdetektiv“, unterbrach er sie lächelnd und reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war kräftig, Fields strahlte ein gesundes Selbstbewusstsein aus.
Marlene fühlte sich unbehaglich. Sie hatte einen älteren behäbigen Mann im Trenchcoat erwartet, aber nicht so ein durchtrainiertes Prachtexemplar, welches ihr die Sprache verschlug.
Fields schien ihre Unsicherheit zu bemerken. „Was halten Sie davon, wenn wir ein Stückchen spazieren? Wir sollten das wunderbare Sommerwetter ausnutzen.“
„Gute Idee“, stimmte Marlene ihm zu. Sie entspannte sich allmählich und im Gleichschritt schlenderten sie die verschlungenen Wege entlang.
„Ich habe dank eines ehemaligen hilfsbereiten Kollegen einen Blick in die Polizeiakten werfen dürfen.“
„Ach ja?“ Marlene schaute überrascht auf. „Und zu welchem Entschluss sind Sie gekommen?“
„Die Kollegen haben gute Arbeit geleistet ...“
„Aber?“, unterbrach sie ihn ungeduldig.
„Sie sind dem Verschwinden des zweiten Zwillingsmädchens nicht genügend nachgegangen. Das wäre immerhin eine heiße Spur gewesen.“
„Da sind wir also einer Meinung?“ Marlene musterte ihn fragend.
„Könnte man so sagen.“
Dieser Privatdetektiv besaß ein umwerfendes Lächeln und brachte sie ständig aus der Fassung. Sie wünschte sich, er wäre weniger gut aussehend.
„Bei meiner Recherche ist mir aufgefallen, dass seit Jahren Zwillingsmädchen spurlos verschwinden, und zwar über den gesamten Globus verteilt.“
„Tatsächlich? Und was hat das zu bedeuten?“
„Das gilt es herauszufinden.“
„Die ... die Bank hat mir nur einen kleinen Kredit gewährt. Ich konnte doch nicht ahnen, dass die Sache solche Kreise zieht“, stammelte sie irritiert.
„Ich werde die Spesen, die Marie betreffen, ordnungsgemäß auflisten. Was darüber hinausgeht, und das ist durchaus auch in meinem eigenen Interesse, werde ich selbst finanzieren. Trotzdem sollten Sie sich nicht zu sehr hineinsteigern, wir müssen abwarten und sehr gewissenhaft vorgehen.“
Marlenes Lippen umspielte ein seliges Lächeln. Diesen Mann musste der Himmel geschickt haben, denn es hatte den Anschein, als würde er ihr Anliegen tatsächlich ernst nehmen. Wie oft hatten Freunde und Verwandte ihre Ideen und Gedanken als Hirngespinste abgetan. Jetzt hörte ihr endlich jemand zu.
„Alles in Ordnung?“
„Ja, das ist es“, antwortete sie erleichtert. Es fühlte sich so an, als hätte er ihr eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen. „Und wie verfahren wir jetzt weiter?“
„Sie werden enttäuscht sein, aber ich habe noch keinen genauen Plan.“ Er blieb am Teich stehen und beobachtete eine Entenfamilie, die auf dem Wasser gründelte. „Alle Zwillingsmädchen, die weltweit verschwunden sind, haben deutschstämmige Vorfahren, wobei ein nicht unerheblicher Teil der Kinder direkt im Urlaub verloren gegangen ist. Es muss ein ausgeklügeltes System dahinterstecken, dessen bin ich mir sicher.“
Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach, und Marlene hing gebannt an seinen Lippen.
„Was mich verwundert, ist die Tatsache, dass es Zwillinge sind. Auf der ganzen Welt werden Kinder entführt, denn der Menschenhandel ist ein lukratives Geschäft. Aber warum ausgerechnet diese Mädchen?“
„Wurden auch Jungen entführt?“
Fields nickte. „Die Zahl ist aber verschwindend gering.“
„Hm, das ist wirklich sehr merkwürdig. Wissen Sie“, fuhr Marlene fort, „ich kann Marie spüren, ich träume fast jede Nacht von ihr. Meiner Tochter Mia ergeht es ähnlich, sie ist sich ganz sicher, dass ihre Schwester noch lebt.“
„Es wird sehr schwer werden, nach so langer Zeit weitere Anhaltspunkte zu finden, und Sie müssen immer damit rechnen, dass die Suche ganz plötzlich in einer Sackgasse endet.“
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