Sie wusste, dass es sich um einen ziemlich weitläufigen Komplex handelte, den sie niemals verlassen durften. Jeder Trakt wurde hermetisch abgeriegelt - ein geschützter Bereich, um das Erbe der Menschheit zu retten.
Die Regeln waren knallhart, wer dem Unterrichtsstoff nicht folgen konnte, wurde ausgemustert. Die Gesundheit jedes Einzelnen stand an oberster Stelle. Sie mussten übermäßig viel Sport treiben und bekamen einen speziellen Essenplan, der extra für sie angefertigt worden war.
Regelmäßige Untersuchungen gehörten zur Routine. Zweimal in der Woche durften sie Filme anschauen, die Bibliothek stand ihnen jedoch täglich zur Verfügung. Das gesamte Heranwachsen wurde von einer gewissen Strenge und Härte bestimmt, um einer mentalen Verweichlichung entgegenzuwirken.
Lenes Leidensgenossinnen waren alle ausgesprochen hübsch anzuschauen und ähnelten sich auf eine gewisse Weise, wenn man von der Schwangerschaft einmal absah. Äußerst intelligente junge Frauen, die vor der Blüte ihres Lebens standen.
Doch sie waren Gefangene, die sich notgedrungen unterordnen mussten. Im Speisesaal über ihnen befand sich ein riesiger Bildschirm, der den Himmel zeigte. Das war nicht mehr als eine Illusion, die ihnen ein Gefühl von Freiheit vermitteln sollte. Doch Lene wusste tief in ihrem Inneren, dass es außerhalb dieser Mauern wunderschöne Orte gab, die nicht nur in ihren Träumen existierten.
Die Tür wurde einen Spaltbreit aufgestoßen und Lisa schaute um die Ecke. „Bist du wach?“, wisperte sie.
„Ja“, erwiderte Lene müde.
Lisa huschte zum Bett und setzte sich auf die Kante. „Nun hat es dich also auch erwischt.“ Traurig strich sie eine Haarsträhne aus Lenes Stirn.
„Vielleicht hat es ja nicht geklappt“, presste Lene mühsam hervor.
„Die wissen sich schon zu helfen.“ Ein bitterer Zug legte sich um Lisas Mund. „Jeden Abend vor dem Einschlafen habe ich mich intensiv mit meinen Kindern beschäftigt. Durch die Bauchdecke hindurch konnte ich ihre winzigen Füßchen streicheln und ich bin so unendlich dankbar, dass ich dieses kleine Wunder erleben durfte. Ich habe ihnen geschworen, dass ich mich nach der Geburt um sie kümmern würde.“ Lisa schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. „Wie naiv ich doch anfangs gewesen war. Ich dachte doch allen Ernstes, dass ich mit meinen Babys diesen Trakt verlassen dürfte.“
Lene griff nach Lisas Hand, um sie zu trösten. „Wir brauchen einen Plan, einen richtig guten. Ich möchte fliehen und dabei brauche ich deine Hilfe.“
Lisa zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Für mich ist der Tod die einzige Alternative. Was soll ich in einer Welt, wo unseresgleichen verfolgt wird? Da kann ich auch gleich zugrunde gehen.“
„Das kommt für mich nicht in Frage, niemals. Wenn es außerhalb unseres Refugiums tatsächlich so schlimm sein sollte, dann bleibt mir später immer noch die Möglichkeit, mich für den Freitod zu entscheiden.“
„Ich kann dich ja verstehen, aber die Türen sind durch Codes gesichert und wer weiß schon, wie viele dieser Türen wir überwinden müssen? Haben alle den gleichen Code oder gibt es für jede einzelne Tür einen anderen?“
„Du hast es also auch schon einmal in Erwägung gezogen?“ Triumphierend blitzten Lenes Augen.
„Wie oft haben wir schon darüber fantasiert?“
„Ja, aber es nie ernsthaft ins Auge gefasst.“
Lisa verschränkte die Arme und ihr Blick wurde ernst. „Lene, das Ganze macht nur Sinn, wenn wir nicht schwanger sind. Ich nehme kaum noch Kalorien zu mir und hoffe, auf diese Weise von einer erneuten Schwangerschaft verschont zu bleiben.“
Sie räusperte sich, bevor sie weitersprach. „Ich werde mit der Zeit schwächer und die Flucht höchstwahrscheinlich nicht durchhalten. Egal wie ich es auch drehe und wende, wir sind die Verlierer ... und unsere Kinder.“
Enttäuscht sah Lene ihre beste Freundin an. „Bitte, lass es uns trotzdem versuchen“, bat sie flüsternd.
Die Zimmertür wurde schwungvoll aufgestoßen. „Auf der Krankenstation sind Kaffeekränzchen verboten.“ Schwester Mareike schob ihren fülligen Körper in das Zimmer. „Was glotzt ihr so? Irgendwann seht ihr genauso aus, wenn ihr die endlosen Hormonbehandlungen hinter euch gebracht habt.“
Lisa erhob sich. „Du bist eine von uns?“, fragte sie erstaunt.
„Was dachtest du denn? Notendurchschnitt ausgezeichnet“, antwortete Mareike voller Stolz.
„Wie viele Kinder hast du denn zur Welt gebracht?“
Lene verfolgte das Gespräch mit Argusaugen, denn Lisa schien mit Bedacht die Fragen zu stellen.
„Vier Zwillingspärchen, danach wollte mein Körper einfach nicht mehr.“ Beschämt senkte sie ihren Blick.
Lisa legte tröstend ihre Hand auf Mareikes Schulter. „Das tut mir ausgesprochen leid. Was passiert eigentlich mit uns, wenn der Kindersegen ausbleibt?“
„Du wirst nach deinen Fähigkeiten ausgebildet und unterstützt unsere kleine Kolonie. Wenn du engagierst genug bist, kannst du dir die Stationen sogar aussuchen.“
„Aber warum bist du dann hier und nicht bei deinen Kindern?“
Zu spät bemerkte Lisa ihren Fehler. Mit dieser Frage war sie eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Mareikes Miene wurde undurchdringlich und sie ging sofort auf Abstand.
„Hiermit ist die Fragestunde beendet. Sieh zu Lisa, dass du in deinen Wohnbereich kommst, sonst melde ich dich.“ Dann richtete sie ihr Wort an Lene und säuselte verschnupft. „Und für deine Gesundheit wäre es sehr förderlich, wenn du noch ein wenig schlafen würdest.“ Verärgert stapfte sie aus dem Zimmer.
Erschöpft betrat Ivette ihr kleines Reich und kickte die Schuhe in eine Ecke. Nachdem sie die Rollläden heruntergelassen hatte, setzte sie sich leise seufzend in den Sessel und rieb sich müde über die Augen. Dass ihre neue Arbeitsstelle als Krankenschwester so anstrengend werden würde, hatte sie nicht erwartet. Sie war einiges gewohnt, aber das war ihr eine Nummer zu groß.
Warum in Herrgotts Namen hatte sie nur diesen vermaledeiten Vertrag unterschrieben?
„Weil du sonst das Haus verloren hättest und auf der Straße gelandet wärst?“ meldete sich eine zynische Stimme in ihrem Hinterkopf.
Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Vase vom Wohnzimmertisch schwungvoll an die Wand gepfeffert, doch dazu fehlte ihr die nötige Kraft.
Die Kleine von der Krankenstation hatte ihr so unendlich leidgetan. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag hatte sie mit ansehen müssen, wie das Mädchen gegen seinen Willen in den Operationssaal geschoben wurde. Sie hatte einen Vertrag mit dem Teufel unterzeichnet, daran gab es nichts zu rütteln.
Nachdenklich lehnte sie sich zurück. Warum hatte sie nicht eher die Reißleine gezogen und das Haus verkauft? Sie schämte sich und Jörg würde sich wahrscheinlich im Grabe herumdrehen, wenn er davon wüsste. Mit Wehmut dachte sie an ihre Ehe zurück.
Ivette hatte Jörg in einem Rostocker Nachtclub kennen und lieben gelernt. Wenig Romantik, aber dafür viel Leidenschaft hatte sie anfangs verbunden. Nach nur einem Jahr kam Jörg mit Bauplänen in der Hand auf sie zu. Er hätte in seinem Heimatort Binz ein Grundstück gekauft und es wäre allmählich an der Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen.
Ivette wollte daraufhin ihren aufreibenden Job an den Nagel hängen, um mit Jörg eine Familie zu gründen, doch dann überschlugen sich die Ereignisse. Durch einen verhängnisvollen Unfall wurde alles, das sie sich gemeinsam aufgebaut hatten, zunichte gemacht.
Ein Zehntonner war ohne zu blinken auf der Autobahn ausgeschert und dieses äußerst riskante Überholmanöver hatte Jörg das Leben gekostet. Er wurde in seinem Firmenwagen regelrecht zermalmt und war auf der Stelle tot.
Ivette hatte gerade ihre neue Stelle im Binzer Krankenhaus angetreten, als die Katastrophe über sie hereinbrach. Jörgs Tod konnte sie nur schwer verkraften, es war einfach nicht mehr dasselbe. Sie hatte lange Zeit Trost gesucht, aber keinen gefunden.
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