Aber auch dieser Jubel währte nicht lange. Schnell wurde deutlich, dass die Deutschen die "nordischen" Letten zwar germanisieren wollten, dem Großteil des Volkes aber überwiegend dienende Funktionen zugedacht hatten. Die Verfügungsgewalt über ihre Heimat sollten die Letten auf jeden Fall verlieren. Auf den großen Plänen und Skizzen, die hinter Glas im Okkupationsmuseum aushingen, wurde deutlich, dass nicht weniger als 160.000 deutsche Siedler nach dem Ende eine siegreichen Weltkrieges in Lettland angesiedelt werden sollten. Die Ermordung der 70.000 lettischen Juden erschien dagegen nur als Teil der nationalen Leidensgeschichte - was der Ausstellung viel Kritik eingetragen hatte. Allerdings wurde der latente Antisemitismus der Letten in der Ausstellung keineswegs verschwiegen - heimlich aufgenommene Fotografien aus lettischen Gefängnissen zeigten, wie die Nationalsozialisten mit Eisenstangen bewaffnete lettische Kriminelle auf die jüdischen Inhaftierten hetzten, ein schreckliches Kapitel innerhalb der nationalen Tragödie, das im Museum nicht ausgespart wurde.
Das Schwergewicht der musealen Dokumentation beschäftigte sich aber mit dem für Lettland katastrophalen Ende des zweiten Weltkrieges. Hunderttausenden lettischer Männer, Frauen und Kindern, nicht weniger als 10 % der gesamten Bevölkerung gelang es, vor der herannahenden Roten Armee in den Jahren 1944 und 1945 nach Westen zu entkommen, wo sie später vorwiegend in den USA und Kanada eine neue Heimat fanden. 135.000 lettische Flüchtlinge aber wurden im letzten Kriegsjahr von der Roten Armee zusammen mit Restbeständen der deutschen Ostarmee im Westen Rigas in Kurland eingekesselt. Die Bilder an den Museumswänden zeigten Szenen eines dramatischen, aber letztlich vergeblichen Widerstandes, den die Rote Armee mit ihrer überlegenen Feuerkraft nieder walzte. Lettischen Flüchtlingen, denen die Flucht über die Ostsee nach Schweden gelang, erging es schlechter als den Vietnam-Deserteuren der Sechziger Jahre: sie wurden von den Schweden inhaftiert und an die Rote Armee ausgeliefert.
Folgte man der Darstellung der Museumsdidaktik, brach mit dem russischen Sieg eine lange Nacht über Lettland herein. Die westlichen Demokratien, die für die Freiheit Polens in den Krieg gezogen waren, überließen auf den Konferenzen von Teheran und Yalta dem totalitären Sowjetkommunismus leichter Hand die Beute, die er sich schon im Nichtangriffspakt mit Hitler-Deutschland gesichert hatte. Hatten die Nationalsozialisten in ihren Okkupationsplänen die Ansiedlung von 160.000 Deutschen in Lettland innerhalb von zwanzig Jahren geplant, kamen zwischen dem Ende des zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der UdSSR im Jahre 1991 nicht weniger als 840.000 Russen nach Lettland, ein Bevölkerungsimport, der die die Struktur des gesamten Landes bis in die Grundfesten veränderte.
Über die Art dieses Wandels gehen die Meinungen bis heute allerdings weit auseinander. In der Sichtweise der Russen wurde das Land nach 1945 mit Riesenschritten entwickelt, die Alphabetisierung ergriff endlich alle Teile der Bevölkerung, Straßen wurden gebaut, Häfen vergrößert, Eisenbahnlinien in Betrieb genommen, und zum ersten Mal entstand eine nennenswerte Industrie. Kein Wunder, dass die Russen die Letten für Schnorrer halten, für undankbare Wohnungsbesitzer, die sich ihre Bruchbuden haben renovieren lassen, um dann die selbstlosen Dienstleister unbezahlt aus dem Lande zu werfen. Für die Letten ist die Erinnerung an die Zeit der Sowjetherrschaft dagegen gleichbedeutend mit der Reminiszenz an ein nationales Desaster, bei dem Hunderttausende den spätstalinistischen Säuberungen zum Opfer fielen. Es ist die Erinnerung an eine Zeit, in der die Welt immer mehr vergaß, dass es überhaupt noch Letten, Esten und Litauer gab, die sich von den Russen kulturell und weltanschaulich unterscheiden wollten. Die Letten haben bis heute nicht vergessen, dass in der so viel gepriesenen Friedens- und Entspannungspolitik der Siebziger Jahre mit keinem Wort von den unterdrückten Völkern Osteuropas und schon gar nicht von ihnen die Rede gewesen ist.
Umso größer war die Überraschung, als der wirkliche Zusammenbruch der UdSSR, stimuliert durch die Freiheitsbewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei vor dem Freiheitsdenkmal in Riga und dem Parlament von Wilna in einer Region Europas begann, die die europäischen Real- und Entspannungspolitiker niemals ernsthaft auf ihrem Radarschirm gehabt hatten. Vor einer staunenden Welt erhob sich in Riga, Wilna und Tallinn der so oft beschworene Wind des Wandels und trieb die russische Besatzungsarmee aus dem Land.
Aber nur die wenigsten erkannten im allgemeinen Jubel dieser glorreichen Tage, dass mit der Wiederkehr der Freiheit die Probleme keineswegs verschwunden waren. Denn unversehens waren über 750.000 Menschen, fast ein Drittel der Bevölkerung Lettlands, in ein staatsrechtliches Niemandsland geraten, das die Beziehungen Lettlands zum übermächtigen Nachbar Russland von Anfang an belastete. Die Letten verweigern der russischen Minderheit bis heute die volle sprachliche Gleichberechtigung und verlangen von allen nach 1940 ins Land gekommenen Russen für die Ausstellung eines lettischen Passes die Ablegung eines lettischem Kulturexamens, was viele Russen, die schon seit dem Ende des 2. Weltkrieges im Lande leben, als Schikane verweigern. Auf der anderen Seite scheut sich auch die russische Regierung nicht davor zurück, die Rohstoffabhängigkeit Lettlands und die heute strittigen Grenzfragen als Druckmittel zu instrumentalisieren. Dass sich im Unterschied zum damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder die lettische Präsidentin ebenso wie viele andere osteuropäische Staatsoberhäupter weigerten, im Mai 2005 an den so genannten „Befreiungsfeiern“ in Moskau teilzunehmen, hat die Misshelligkeiten weiter angeheizt. Kein Wunder, dass der amerikanische Präsident Georg W. Bush umjubelt wurde, als er am Vorabend dieser russischen Siegesfeiern und unmittelbar vor seinem Moskaubesuch am 8. Mai 2005 einen Kranz am Freiheitsdenkmal in Riga niederlegte und zum Zorn des russischen Nachbarn die sowjetische Okkupation des Baltikums ausdrücklich verurteilte. Viele meinen, erst mit dieser Kranzniederlegung des amerikanischen Präsidenten am Freiheitsdenkmal sei die Stadt Riga wirklich frei geworden.
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Erfahrene Sekretärinnen sagen, einen Chef erkennt man nicht unbedingt an seinem Büro, sondern an seinem Vorzimmer. Mit den Städten verhält es sich oft ebenso - ihr wirkliches Wesen tritt manchmal in den Vorstädten viel deutlicher zutage als in den Zentren. Um dies zu erkunden, lief ich vom kleinen Kanal, der die Altstadt begrenzte, die Kristina Valdemara und den Brivibas Bulvaris stadtauswärts, fuhr hier einige Stationen mit dem Bus, setzte mich hier und dort ein wenig auf die Bank, um mir die Umgebung einzuprägen und strolchte einfach aufs Geratewohl ziellos durch die Straßen. Es dauerte nicht lange, da verschwanden die Wäschereien, Supermärkte, Videotheken und Sexshops, um den eintönigen Plattenbauten Platz zu machen, die uns schon bei der Stadteinfahrt erschrocken hatten. Ich passierte graue Wohncontainer mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen, vermüllte Wiesen und Versammlungen alter Männer, die auf wackeligen Bänken vor ihren Hauseingängen saßen. Kinder und junge Frauen waren nur wenige zu sehen, immerhin gehört die Geburtenrate der baltischen Länder mit 0,9 Kindern pro Frau zu den niedrigsten der Erde, und ein Großteil der gut ausgebildeten jungen Frauen hat sich längst in den Westen aufgemacht. Viele der jungen Männer, die mir auf meinem Streifzug begegneten, waren also einsam, folglich trugen sie Muskelshirts und hatten den Schädel kahl rasiert. In ihrer typischen Erscheinungsform hielten sie in der rechten Hand eine Zigarette und mit in der Linken hantierten sie entweder an einem Handy oder massierten sich das Gemächt. Einige kamen mir in angetrunkenem Zustand entgegen und schauten mich an wie schwer angeschlagene Boxer, die im nächsten Augenblick k.o. gehen oder einen unberechenbaren Ausfall wagen würden.
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