Ludwig Witzani - Die kleine Posaune der Freiheit

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Der Untergang des Kommunismus hat die baltischen Länder und Polen befreit, sie sind aus ihrem totalitären Kälteschlaf erwacht und dabei, eine noch ungewisse Zukunft zu gestalten. Anders verhält es sich noch mit dem Kaliningrad Oblast, mit Sankt Petersburg und Weißrussland, aber auch hier hofften die Menschen endlich Abschied nehmen zu können von den Verwüstungen des 20. Jahrhunderts. Ein anderes Europa nimmt Gestalt an, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Formen, und Ludwig Witzani wollte mit eigenen Augen sehen, wie sich diese Umbrüche vollziehen. Dabei trifft der Autor auf ein Europa, das dabei ist, einen stürmischen Aufbruch zu wagen, und dass doch zugleich noch immer an den Hypotheken einer Vergangenheit trägt, die nicht vergehen will: der Erinnerung an den nationalsozialistischen Massenmord und die Deformationen, die der Kommunismus den osteuropäischen Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg zugefügt hat. In der Begegnung mit den historischen Zeugnissen dieser Epochen aber auch mit den Menschen, die ihm auf dieser Reise begegnen, gewinnt der Autor ein neues Bild von der europäischen Peripherie, die keine Peripherie mehr sein will – und eine neues Verständnis seiner deutschen Identität.

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„Ganz schön trist hier“, sagte ich zu Stefan. „Ich könnte verstehen, wenn du jetzt abhaust und dich in einem besseren Hotels einquartierst.“

„Nein“, wehrte er ab. „Das ist schon in Ordnung. Ich schlafe erst mal eine Runde. Morgen wird schon wieder die Sonne scheinen.“

Das allerdings war ein Irrtum. Volle zwei Tage zogen immer neue schwarze Regenwolken von der Ostsee heran und entluden sich über der Stadt. Nur zwei- oder dreimal hörte der Regen für ein oder zwei Stunden auf, um dann umso stärker aufs Neue loszubrechen. Wir gewöhnten uns an ein Geräusch, als würden Tag und Nacht Millionen Fingerkuppen auf das Holzdach trommeln, beobachteten, wie die Pfützen im Garten immer größer wurden und ließen schließlich den jämmerlich vor unserer Türe jaulenden Dackel in unsere Hütte, um ihn abzureiben und mit ihm zu spielen.

Eigentlich hatte ich mich am Strand von Pärnu ein wenig sonnen wollen, daraus wurde nun nichts. Und auch für Stefan war es sinnlos, den Schönheiten der baltischen Frauen im strömenden Regen nachzuspüren. Da er kaum las, schlief er viel oder saß stundenlang am Fenster und blickte in den Regen. Er hatte zwei Flaschen Wein besorgt, aus denen er sich in immer kürzeren Intervallen ein Glas einschenkte.

„Sag mal, hast Du eigentlich schon mal eine Freundin aus Osteuropa gehabt?“ fragte er mich unvermittelt.

„Nein.“

„Ich schon.“

„Und, wie war´s?“

„Eigenartig.“

„Wo kam sie denn her?“

„Aus Sofia“, antwortete Stefan. „Fährst du da auch noch hin?“

„Schön möglich“, antwortete ich. „Aber erzähl doch mal.“

Stefan schenkte sich nach, goss auch mir ein Glas Wein ein und zog eine Schnute, die ich an ihm noch nicht gesehen hatte.

„Es begann wie eine richtige Romanze, dann wurde es eine richtige Liebe, und am Ende zerplatzte es wie eine Seifenblase.“

Nun donnerte es draußen. Der Himmel hatte sich vollkommen verdunkelt, der Dackel lag behaglich auf meinem Schoß und schnarchte.

„Ihr Name war Lydia, sie war Anfang zwanzig und studierte Politikwissenschaft in Frankfurt. Ich traf sie, als ich in den Zug nach Koblenz einstieg, um einen Freund in Köln zu besuchen. Sie war so schlank, sie wirkte so zerbrechlich und zugleich so herzlich, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte.“

„Sprach sie denn deutsch?“

„Fließend. Sie studierte Philosophie in Frankfurt und begann mir auch gleich etwas über den Kategorischen Imperativ zu erzählen. Auf jeden Fall sprang sofort ein Funke über, und als sie in Bonn ausstieg, bin ich mit ausgestiegen. Wir gingen an das Rheinufer und erzählten uns den ganzen Abend unsere Leben. Schließlich tauschten wir unsere Adressen aus, sie brachte mich zum Bahnhof, und ich fuhr alleine weiter nach Köln.“

Stefan machte eine Pause und blickte aus dem Fenster. Dann wendete er den Kopf und sah mich an: „Keine zwei Tage später klingelte es an meiner Türe, und Lydia stand mit zwei vollgepackten Taschen im Treppenhaus. Ohne zu fragen, ließ ich sie ein, wir schliefen zusammen und lebten hinfort wie Mann und Frau.“

Ich trank das Glas leer und schwieg.

„Die ersten zwei drei Monate waren wunderbar“, fuhr Stefan fort. „Ich war so lange Single gewesen, hatte mich mit all diesen unzuverlässigen Weibern herum geschlagen, und hier war plötzlich eine junge, schöne Frau, die sich hundertprozentig auf mich einstellte, die den Tisch gedeckt hatte, wenn ich heimkam und sich nachts an mich kuschelte, als gelte es ihr Leben.“

„Hört sich etwas traditionell an“, wandte ich ein.

„Nein, das hört sich wunderbar an“, widersprach Stefan. „Aber leider war das nur der Anfang. Denn bald kam sie dahinter, dass ich ein Langzeitstudent und keineswegs so vermögend war, wie sie angenommen hatte. Und auch ich erkannte, dass sie von jeder Art Examen noch meilenweit entfernt war. Sie war einfach aus Sofia abgehauen, hatte in Frankfurt bei entfernten bulgarischen Verwandten gelebt und sich gedacht, dass sie bei mir festen Boden unter den Füßen bekommen könnte.“

„Das hätte doch klappen können. Warum seid ihr denn nicht beide arbeiten gegangen?“ fragte ich.

„Ging nicht, ich versuchte mich gerade an einem zweiten Anlauf zum Jura-Examen, aus dem mit dieser Liebesgeschichte natürlich nichts mehr wurde. Und sie verfolgte immer deutlicher nur ein Ziel: ich sollte sie heiraten, damit sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würde, denn ihre Aufenthaltserlaubnis lief ab.“

„Hast du sie denn geliebt?“

„Ich glaube, ja.“

„Und warum hast du sie nicht geheiratet?“ fragte ich.

„Ich weiß auch nicht, Plötzlich traute ich ihr nicht mehr. Die Sache schien mir gar zu durchsichtig. Ich zögerte. Und dann war sie eines Tages weg.“

„Wie das?“

„Eines Tages kam ich nach Hause, und ihre Sachen waren weg. Über eine Freundin erfuhr ich später, dass sie nach Paris gefahren war, wohin sie ohnehin bald hatte reisen wollen. Dort hat sie innerhalb kürzester Zeit einen Franzosen geheiratet.“

„Das ist bitter.“

„Nein“, antwortete Stefan. „Nur lehrreich.“

„Und warum versuchst Du es mit den baltischen Frauen nun noch einmal?“

„Weil man aus Fehlern eben nicht lernt.“

Nach zweieinhalb Tagen hörte der Regen endlich auf Noch immer hingen die - фото 5

Nach zweieinhalb Tagen hörte der Regen endlich auf. Noch immer hingen die Wolken wie eine feuchte Decke über der Küste, doch nun konnte man immerhin durch die Stadt spazieren und über den Strand laufen. Vom feuchten Wind der Ostsee umweht, besuchten wir das Estonia- Denkmal von Pärnu, ein groteskes Stahlgewirr, das zum Gedenken an den Tod von achthundert Esten bei dem Untergang der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994 errichtet worden war. Ich erinnerte mich noch gut an das Aufsehen, dass dieses Unglück damals in der Presse des Westens verursacht hatte, begriff aber erst jetzt, welche Katastrophe der Tod von 800 Menschen für eine Ethnie bedeutete, die ohnehin nur noch 800.000 Menschen zählte. Umgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands hätte ein proportional vergleichbares Desaster die unfassbare Zahl von 80.000 Opfern fordern müssen.

Gleich neben dem Estonia Denkmal befand sich am Rande eines Wohnkomplexes in Strandnähe ein Stahlgebilde von etwa dreißig Metern Höhe. Etwa auf halber Höhe erkannten wir beim Näherkommen zwei Kinder, die scheinbar sorglos und ungezwungen in riskanter Höhe an den Eisenstangen herumkletterten. Ihre Mutter, eine rothaarige junge Frau, mit Pelzjacke und weißen Stiefeln bekleidet, saß auf einer Bank neben dem Stahlgerüst und rauchte.

Erst dachte ich, dass sie zu ängstlich sei, die Kinder herunterzuholen und erbot mich, das für sie zu erledigen. Doch sie winkte ab. „Die kommen schon zurecht“, sagte sie in tadellosem Deutsch. „Aber woher kommen Sie?“

So begann ein Gespräch, bei dem ich nervös die tollkühnen Kinder im Auge behielt und erleichtert feststellte, dass sie langsam herunter kamen, während sich ihre Mutter eine Zigarette nach der anderen anzündete.

Ihr Name war Anna, sie hatte Germanistik studiert und weilte nun schon seit einem Monat zur Sommerfrische in Pärnu. Wie sie offenherzig bekannte, hing ihr die Betreuung der Kinder inzwischen zum Hals heraus und sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn die kleinen Biester abgestürzt wären.

Als sie unsere betroffenen Mienen sah, lachte sie laut auf. „Mein Gott, das war doch nur ein Scherz.“ Dann veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte mir tief in die Augen, am Herzen vorbei direkt ins Eingemachte. Ich spürte es ganz deutlich, mir lief es kalt den Rücken herunter, während ich mich fragte: Ist das Osteuropa?

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